Lassi in der Lausitz

In einem Dorf in Sachsen eröffnet ein gebürtiger Pakistaner ein Restaurant. Gute Idee in einer Gegend, aus der so viele abwandern und in der sonst nichts passiert – oder?

[Stern, November 2024]

Es geht gut los. Kaum öffnet das neue Dorflokal, sind alle Tische besetzt. „Ich bin aufgeregt“, sagt Waheed Shah, der Inhaber, am Auftaktabend vor einem Jahr, im November 2023. Im Anzug serviert er Mangosekt und vertröstet ein Paar, das an der Tür nach Plätzen fragt: „Leider komplett voll. In zwei Wochen machen wir Bollywoodparty, kommen Sie gern.“

Das Paar hatte aus Neugier angehalten. Sieben Jahre brannte im Lokal kein Licht. So lange fehlte dem ostsächsischen 700-Einwohner-Dorf Hochkirch ein Gasthaus, wie vielen Orten der Region. Dabei gelten Dorfgaststätten als Zentren für Begegnung und Austausch, als Schmieden fürs Miteinander. Sie sind wichtiger denn je.

Waheed, sie nennen ihn hier alle nur beim Vornamen, ist Ende 40, aufgewachsen in Haripur, Pakistan. Er hat für Hochkirch große Pläne: Im holzvertäfelten Gastraum will er die Leute zum Schlemmen, Würfeln, Schwatzen versammeln, oben im Festsaal Feiern ausrichten. Dort steigt auch der Einweihungsabend.

„Ich hoffe, es schmeckt“, sagt er in seiner Rede, bevor er das Büfett eröffnet. „Und falls nicht: Döner geht immer.“ Viele Gäste lachen. Seit Jahren verkauft er in einem Imbiss Döner und Pizza. Vom nächsten Schritt, dem eigenen Restaurant, hat er lange geträumt. Mit seinem Cousin beriet er, Pakistan aus dem Gaststättennamen rauszulassen, manch Deutscher denke da an Islamisten, was fürs Geschäft nicht förderlich sei. So heißt das Lokal „Goa“ wie der kleinste Bundesstaat Indiens, und vor dem Hauptgang tritt eine Bauchtänzerin auf.

Die Gäste schauen zunächst scheu, ein Kind ruft: „Sie hat einen Kerzenständer auf dem Kopf!“ Die Tänzerin schnappt sich Leute aus dem Publikum, ein belustigter Herr, zwei kleine Mädchen und eine Seniorin versuchen sich am Hüftschwung. Früher am Abend, als noch keiner da war, hat auch Waheed spontan getanzt. Voller Vorfreude. Jetzt raucht er draußen eine Pausenzigarette, „ohne Dampf keine Leistung“. Er wirkt erschöpft, aber glücklich. So darf es weitergehen. Wird es das?

Die Gegend, in der er sein Glück sucht, steht sonst selten für Aufbruch. Seit 1990 sank die Einwohnerzahl im Kreis Bautzen, in dem Hochkirch liegt, um fast ein Viertel. Bis 2040 droht ein Schwund um weitere 13 Prozent. Wer optimistisch auf die vielen Leerräume in der Oberlausitz nahe der Grenze zu Polen blickt, sieht reichlich Platz – für Neue, die Neues schaffen. Gibt man ihnen eine Chance?

In Hochkirch hatte Waheed zuvor wie ein Wahlkämpfer Flyer verteilt, an Haustüren, an der Wursttheke des Dorfladens und beim Friseur, der nur noch nach Vereinbarung öffnet. Doch nur wenige der etwa 80 Eröffnungsgäste stammen aus dem Dorf. Die meisten wohnen in Mücka, einem ähnlich kleinen Ort, der 25 Kilometer nördlich liegt.

Mücka hat keinen Marktplatz. Der Wochenmarkt mit Fleischer, Blumenstand und Broilermann schlief vor Jahren ein. Trotzdem trifft sich das Dorf: vor dem „Red Onion“, Waheeds Imbiss, den er seit 2017 auf einem Schotterplatz an einer Straßenkurve betreibt. „Er hat es wirklich geschafft in Mücka“, sagte ein 19-Jähriger bei der Goa-Eröffnung. Am Imbiss zeigt sich, was er meint. Dort steht der Bürgermeister in der Schlange, der anerkennend sagt: „Der Waheed kennt hier Tausende Leute“, obwohl sein Ort nur 600 Menschen zählt. Es kommen Schüler, die sich am Imbiss die Zeit vertreiben, bis der Bus sie in ihre Dörfer fährt. „Weltbester Dönermann!“, kritzelten sie an den Stand. Man trifft Rentnerinnen, die sich nach dem Arztbesuch als Ritual einen Kinderdöner gönnen, einen Teichwirt mit Dynamo-Dresden-Wappen auf der Wade und zwei Lasterfahrer, die Schüttgut geladen haben; die Schilder in den Frontscheiben weisen sie als Kai-Uwe und Opa Mario aus. Letzterer schwärmt von DDR-Zeiten, als vor den Imbissen immer fünf, sechs Lkws standen. Am Red Onion scheint das alte Gefühl aufzuleben, jedenfalls ordert er seinen Döner „zum Hieressen“. „Wir tun dich beehren“, sagt er zu Waheed. Wer nur zum Plaudern kommt, ohne Essenswunsch, bekommt von Waheed, der muslimisch aufwuchs, zu hören: „Machst du Ramadan?“

Eine Nachbarin in Arbeitsbluse fürchtet, dass er wegen der Goa-Öffnung künftig seltener in Mücka ist, sie sagt zu ihm: „Du bist hier angekettet. Wehe, du gehst!“ Er will lieber mehr arbeiten und den Imbiss parallel weiterführen. Er hängt an der Bude und den Leuten. Eine Kundin, junge Mutter, lud ihn zu Weihnachten zu ihrer Familie ein, eine andere brachte ihm an einem frostigen Wintertag vom Einkauf Thermosocken mit. „Man hilft sich, weil man sich gern hat“, sagt sie.

Der Dorftreff dient auch dem politischen Schlagabtausch. André, ein Straßenbauer, schimpft über das Bild, das man anderswo von seiner Region habe: „Uns muss hier niemand als braun bezeichnen.“

Fakt bleibt, dass die AfD im Landstrich große Erfolge feiert. In Mücka wie auch in Hochkirch wählten bei den letzten Wahlen jeweils teils über 40 Prozent die Partei, die Sachsens Verfassungsschutz als gesichert rechtsex trem einstuft. In Mücka macht zudem ein rechter Rockertreff Schlagzeilen.

Auf die Leute der Gegend lässt Waheed wenig kommen. Doch er berichtet von „zwei Neonazis“, die am Imbiss aufgetaucht seien und gerufen hätten: „Was willst du hier, das ist unser Land!“ Sein Freund Benjamin, Jugendwart der Feuerwehr, wimmelte die beiden ab.

Waheed, der 2011 als Asylbewerber kam und inzwischen deutscher Staatsbürger ist, kann die Wut nicht verstehen. „Ich bezahl Steuern, ich arbeite hier.“ Er ist Dauergast im Jobcenter – weil er dort als Dolmetscher hilft. Er spricht Urdu, Paschtu, Hindi, Panjabi und am Imbiss das Sächsisch seiner Kunden: „Mit viel Fleesch, nu klar!“

In Hochkirch, gerahmt von grünen Hügeln, steht sein Lokal am Ortseingang, vor der Tür verläuft die Bundesstraße 6. Waheed gefiel die Lage, weil er in den Vorbeibrausenden potenzielle Gäste sah.

Leider halten weniger als erhofft. Nach guten Wintermonaten erlebt das Goa im letzten Frühjahr eine Flaute. Um sie aus-zugleichen, steht Waheed wieder häufiger in seinem Mückaer Imbiss, er hat es dort mit einer Aushilfe versucht, aber da kamen weniger Kunden. Es treibt sie eben nicht nur der Hunger zu ihm. Als er wegen seines erkrankten Bruders einmal länger in Pakistan ist, hört er nach der Rückkehr am Imbiss: Zehn Wochen habe das Lachen gefehlt.

Im Goa serviert nun meist seine gute Freundin Doreen Döring. Die 52-Jährige gab dafür ihre Stelle als Köchin auf. Manchmal muss sie sich vor Bekannten erklären, warum sie für einen Ausländer arbeite. Sie sagt: „Weil er mein allerbester Kumpel ist.“ Waheed war mit Doreens Mann befreundet, der vor einigen Jahren starb, und hat einen guten Draht zu ihrer behinderten Tochter. Trifft er sie, sagt er: „Ich hab dich lieb, weißt du das?“

Die Gäste, die ins Goa kommen und oft von auswärts stammen, loben meist erst das Lammcurry: „Fünf von fünf Sternen!“ Und bald darauf klagen sie: über ihre eigenen Dörfer, in denen das letzte Lokal längst ge-schlossen habe. „Das ist wegen der Jugend, die ist fort“, sagt eine Frau aus Lawalde. „Und kommt nicht mehr wieder“, ergänzt ihr Mann.

So erklärt sich, dass an einem sonnigen Nachmittag, als der Hochkircher Kulturverein unter einen Kirschbaum zum „Liedersingen für Jung und Alt“ lädt, nur Alte kommen, vor den Stühlen parken Rollatoren. Im Dorfmuseum des Vereins zeigt ein Ortsplan, dass einst jedes zweite Haus ein Laden, eine Schänke, ein Handwerksbetrieb war. Wer nicht Rentner ist, arbeitet heute oft auswärts – und besorgt dort gleich die Einkäufe. Im Mai machte der Hochkircher Dorfladen mangels Umsatzes dicht. „Vor der Wende brauchte jeder jeden. Heute bleibt man mehr für sich“, sagt der einstige Dorffleischer, Thomas Hennersdorf, als er mit seiner Hündin um die Kirchmauer spaziert. Auch ihm ging vor Jahren die Kundschaft aus, weil es Wurst und Sülze woanders günstiger gab.

An einem Junisamstag sitzt mittags nur ein Mensch im Gastraum des Goa: Waheed. Er wirkt müde. „Vielleicht habe ich bald wieder mehr Freizeit.“ Er überlegt, das Lokal zu schließen. An vielen Tagen nimmt das Goa keine 300 Euro ein. „Das ist nix.“ Der Polin, die Salat schneidet und Teller wäscht, wird er kündigen müssen. „Sie ist eine so nette Frau. Aber was soll ich machen?“, sagt er. „Ich weiß nicht, warum die Hochkircher Leute nicht kommen.“

Vielleicht weiß es der Maler in weißer Latzhose, der an einem Vormittag das Vordach eines villengleichen Hauses am Sportplatz streicht. Auf seiner Leiter zählt er die Gasthöfe auf, die es hier gab, „alle den Bach runtergegangen“. Das Goa könne die Leerstelle nicht füllen: „Die Gaststätte hat mit dem Dorf nichts zu tun, das sind Fremde.“ Ihm sei schon vorher klar gewesen, „dass das keine Dorfkneipe wird. Und das wird auch nie eine werden.“ Der Wunsch nach Geselligkeit scheint nicht so groß wie der Schatten, über den man dafür springen müsste.

Im Goa stemmt sich Doreen gegen das drohende Aus. Vom eigenen Geld hat sie Pflanzen besorgt, um den Gastraum aufzuhübschen: „Waheed kennt mein Kämpferherz nicht.“ Sie, die immer als Köchin gearbeitet hat und ihm zuliebe erstmals Kellnerin ist, wirkte anfangs an den Tischen schüchtern, doch mit jedem Monat scheint sie besser in die Rolle einer Gastgeberin zu wachsen, die gern mit den Leuten plaudert.

Manchmal wirkt sie sprachlos. Einmal kehrt zur Mittagszeit ein älteres Paar ein. Beide entschuldigen sich höflich für einen Fleck auf dem Tischtuch, „das ist eigentlich nicht unsere Art“, dann beginnen auch sie, über fortgezogene Kinder und sterbende Dörfer zu klagen. Der Mann steigert sich in eine Tirade über die Regierung hinein, die die Wirtschaft ruiniere und immer mehr „Halbschwarze“ ins Land lasse. Wozu das führe, sehe man ja. Dann springt der herzkranke Senior, der mit Mühe die drei Stufen ins Lokal bewältigt hatte, vom Stuhl auf, um mit einem imaginären Messer zuzustechen.

„Schrumpfende Gesellschaften sind oft Gesellschaften des Rückzugs“, schreibt der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch „Warum der Osten anders bleibt“. Er nennt das Phänomen „Wagenburgmentalität“. Die Regionen, die am meisten für Zuzug werben müssten, igeln sich am stärksten ein.

Andererseits: In einem Hochkircher Nachbarort hat sich eine türkischstämmige Familie angesiedelt und backt in einem umgebauten Stall Fladenbrot. Der Absatz steigt, weil in der Region zwar die Gaststätten sterben, aber mehr und mehr Dönerimbisse entstehen. Laufkunden bietet die Familie frische Brötchen.

In Mückas Ortsteil Förstgen fällt eine alte Frau fast vom Fahrrad. Weil ihr eine Kinderhorde entgegenstürmt. „Man rechnet ja hier mit niemandem“, sagt sie nach dem Schreck. Die Leiterin der jungen Feriengruppe entschuldigt sich: „Wegen dem Waheed ist hier so viel los. Der macht heute einen indischen Abend!“ In der Förstgener Wassermühle.

Die wurde kürzlich restauriert, ist seither Café und Anlaufpunkt für Gäste und Einheimische. Die Betreiberin lernte Waheed – wo sonst – an dessen Imbiss kennen. Sie lädt ihn immer mal wieder für kulinarische Events ein. Die Region sei als Heimat der Rechten bekannt, sagt sie, „da müssen wir ein bisschen gegensteuern“. In Waheed sieht sie einen Komplizen: „Mit gutem Essen lässt sich manches Vorurteil drehen, zum Beispiel über Muslime.“

Als alle 70 Gäste versorgt sind, geht Waheed von Tisch zu Tisch. „Schmeckt wunderbar“, lobt eine Seniorin in geblümter Bluse, „ich hörte, Sie haben in Hochkirch ein Restaurant?“ – „Herzlich willkommen!“, sagt er und gibt ihr einen Flyer. Sein Vermieter kommt ihm bei der Miete entgegen, damit das Lokal nicht wieder leer steht. Waheed will das Goa vorerst weiterführen.

An einem Juli-Dienstag klackert ein junger Belgier auf Radschuhen herein, der auf der Route „Trans Germany“ durch Deutschland radelt und bei Doreen gleich drei Gerichte und ein Bier bestellt. In der Vorwoche saßen eine Geburtstagsrunde und ein Wanderverein bei ihr, außerdem ging eine Feieranfrage für 50 Personen ein – für Dezember 2025. „Bis dahin müssen wir durchhalten“, sagt Doreen und lacht. Dann betritt eine Dorfbewohnerin den Gastraum und überreicht Doreen einen Strauß Basilikum, „der explodiert in meinem Garten“. Sie heißt Barbara Ebschner und kennt hier als pensionierte Ärztin jede Familie. Ihre Kinder leben in Bremen, Zürich, Hannover. „Was soll man hier auch machen: Das Dorf ist alt, die AfD übermächtig“, sagt sie. Als Ärztin sorge sie das. „Die Menschen vereinsamen, das ist die neue Volkskrankheit.“

Aber sie kennt auch eine Kur: Linsen-Dal und Mango-Lassi, einzunehmen bevorzugt im Goa. „Ich bin Stammgast“, sagt sie. Bei Friseurbesuchen wirbt sie für das Lokal, lud andere Frauen des Dorfs hierher ein. Sie bat sogar eine befreundete Gastwirtin um Tipps für mehr Zulauf und gibt diese nun an Doreen weiter. „Ihr müsst große Schilder aufstellen“, sagt sie, „und auch mal regionale Kost wie Eierplinsen servieren.“ Wenn nichts los sei, könne der Koch, statt aufs Handy zu gucken, das Unkraut ums Haus jäten, „das Dorf achtet auf solche Dinge“.

Dann ist Herbst. Wie zur Eröffnungsfeier vor fast einem Jahr muss Waheed an der Tür des Lokals wieder hungrige Gäste abweisen. Dieses Mal nicht wegen Überfüllung. Er hat das Goa schließen müssen, leider eben doch. Zwar stieg zuletzt der Umsatz wieder, doch insgesamt habe er zu viel draufgezahlt, erzählt er im leeren Gastraum. „Es war mein Traum. Aber was soll man machen.“

Er wirkt geknickt, aber auch von einer Last befreit. Für mehr Gäste und Erfolg hätte er jeden Tag im Lokal stehen müssen, das sagt er selbst, aber dann hätte er in seinem Imbiss in Mücka gefehlt, mit dem er sein Geld zum Leben verdient. Doreen kehrte an ihren alten Arbeitsplatz als Köchin zurück. „Wir haben es nicht geschafft. Aber wir haben es versucht“, sagt sie über die vergangenen Monate.

Waheed verhandelt derzeit mit mehreren Pakistanern, die das Lokal und die Einrichtung vielleicht übernehmen, das Goa soll weiterleben. In Mücka gelang Waheed bereits das Kunststück, ein sächsisches Dorf für sich zu gewinnen. In Hochkirch müssen das nun andere probieren.