Nachspielzeit

Früher Bundesliga, heute Kinder-Kreisklasse: Udo Zuchantke, 87, ist Deutschlands dienstältester Fußballschiri – warum pfeift er weiter?

[tip Berlin, August 2024]

Udo Zuchantke ist seit 33 Jahren Rentner, aber Langeweile, sagt er, kenne er höchstens im Sommer, wenn der Berliner Fußball pausiert. „Dann fehlt was.“

Im Dezember wird er 88 Jahre alt. Zum Start der neuen Saison Ende August will er wieder auf den Platz. In kurzen Hosen und Nockenschuhen. Denn Zuchantke pfeift weiter. Siebzig Jahre als Schiedsrichter liegen hinter ihm.

Inzwischen leitet er D-Jugend-Spiele, mit Kindern von 10 bis 12 Jahren. Früher pfiff er die Großen – die ganz Großen: Zuchantke war Bundesligaschiedsrichter, von 1972 bis 1978, Berti Vogts, Gerd Müller und Franz Beckenbauer hörten auf seine Pfiffe. „Für Udo, zur freundlichen Erinnerung, dein Uwe Seeler“, steht auf einem Foto seiner Sammlung.

Manchem seiner heutigen Spieler erklärt er pro Halbzeit dreimal, beim Einwurf bitte mit beiden Beinen am Boden zu bleiben. In einigen Partien fallen so viele Tore „dass man zum Mitzählen fast den Taschenrechner braucht“, witzelt er.

Als Koryphäe in der Kreisklasse. Was motiviert ihn? Anders gefragt: Warum tut er sich das noch an?

Ein Samstag im Mai dieses Jahres, Spitzenspiel der Staffel 5 der D-Junioren-Kreisklasse C: Der Tabellendritte, Hertha Zehlendorfs neunte Mannschaft, empfängt den Spitzenreiter, die Fünfte von Viktoria Berlin. „Los, kommt“, ruft Zuchantke und führt die Teams aufs Feld.

Ein Zehlendorfer stoppt den Ball an der Außenlinie, der Verteidiger im himmelblauen Viktoria-Shirt ruft: „Der war aus!“ Zuchantke winkt ab. „Nein, weiter.“ Der Junge bläst die Backen auf, will protestieren – und trabt dann stumm davon. Vielleicht fielen ihm die Worte seines Trainers vor Spielbeginn ein: „Seid nett zum Schiedsrichter. Er ist seit siebzig Jahren dabei. Da kenne ich keinen anderen.“

Laut Deutschem Fußball-Bund gibt es bundesweit zwar elf ältere aktive Schiedsrichter als Zuchantke, der Rekordhalter soll 91 sein. Doch von ihnen pfeife keiner schon sieben Jahrzehnte. Deutschlands dienstältester Fußballschiri, der Titel gebührt nur ihm.

Als er eine Stunde vor Anpfiff eintraf, mit Rollkoffer, weißer Baseballkappe und Pulli mit dem Schriftzug „Don’t look back“, wirkte er wie ein Urlauber. Nur die Hutablage seines Autos verwies auf sein Vorhaben: Dort liegen zwei Linienrichterfahnen, „falls ein Verein mal keine vernünftigen hat.“ Bei diesem Schiri darf offenbar jeder wissen, wo sein Auto steht.

Jährlich werden fast 1000 Amateurpartien wegen Gewalt und Drohungen abgebrochen, oft gegen die Schiedsrichter. Zuchantke sagt, ihm passiere das nie, vielleicht schützt ihn die Ehrfurcht vorm Alter. Er kann sich nur an eine einzige rote Karte erinnern, die er einem der Jungs zeigte: Nach einem Elfmeterpfiff hatte der ihm zugeraunt, wie viel Geld ihm der Gegner zahle.

Frech kam ihm auch mancher Erstligaprofi. Nach einer Partie fragte ihn Stürmer und 74er-Weltmeister Jürgen Grabowski: „Schönes Spiel, oder? Schade, dass Sie es nicht gesehen haben!“ Heute schmunzelt Zuchantke über den Spruch. Auf seine Sehstärke ist Verlass, selbst zum Autofahren braucht er keine Brille.

Im Spiel pfeift er einen Einwechsler zurück, der zu früh aufs Feld gelaufen ist. Manchmal bitten Eltern ihn, weniger streng zu pfeifen. Er sagt dann: „Ich kann hier kein Auge zudrücken.“ Jedes Match ernsthaft anzugehen – dieser Ehrgeiz gibt ihm Energie.

Als Viktorias Stürmer auf ein Knäuel Verteidiger zudribbelt, spurtet Zuchantke hinterher – und kann so aus nächster Nähe Freistoß pfeifen, als der Spieler weggegrätscht wird. Hinterher in der Kabine sagt er: „Bei heiklen Situationen will ich immer mittenmang sein.“

Die mit Berliner Vokabeln gespickten Sätze verraten es: Zuchantke ist Urberliner. Fort zog er nur für kurze Zeit: 1941, als bereits Bomben auf Berlin fielen, siedelte man kinderreiche Familien zu deren Schutz aufs Land um, die Zuchantkes verschlug es ins besetzte polnische Margonin. Vor Kriegsende flüchtete die Familie vor der Roten Armee zurück nach Berlin. „Wir kamen dort in den größten Schlamassel rein“, sagt er und spricht von Trümmern, Staub, den Toten auf den Straßen. Sein Vater kehrte von der Front nie heim.

Im Jahr 1954, als Helmut Rahn die Deutschen zum ersten Weltmeistertitel schoss, schloss Zuchantke die Schule ab, begann eine Buchhalterlehre – und absolvierte einen Anwärterkurs für Schiedsrichter.

Siebzig Jahre später, an einem schwülen Junitag, steht er auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor. Er tippelt von einem Fuß auf den anderen. „Die Aufregung“, sagt er. Der Berliner Fußballverband nutzt einen der spielfreien Tage der Fußball-EM, um verdiente Ehrenamtler auszuzeichnen. „Der Mann ist eine Legende“, spricht der Moderator ins Mikro und holt Zuchantke auf die Bühne. Das Publikum erhebt sich aus den Liegestühlen.

Unter „Udo, Udo!“-Rufen streift er ein Trikot mit der Rückennummer „70“ über und wird gefragt, ob er sich an sein erstes Bundesligaspiel erinnere. Kennzahlen seiner Karriere kann Zuchantke aufsagen wie andere Senioren Schiller-Balladen. „Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund“, sagt er. „Fünf zu zwei.“

Wer mit ihm über jene Jahre spricht, ob auf seinem Sofa oder in der Kabine beim Pausentee, hört den sonst eher zurückhaltenden Mann lossprudeln: Zum Beispiel über Willi „Ente“ Lippens, den Stürmer mit dem Watschelschritt, der im Spiel Zuchantkes mahnenden Zeigefinger nachäffte, die Szene prangt als Foto auf Lippens‘ Memoiren.

Zuchantke pfiff auch Günther Netzers letztes Bundesligaspiel, bevor der zu Real Madrid wechselte, „Gladbach gegen Stuttgart, weiß ich noch wie heute.“ Er nutzt viele solcher Formulierungen: „Schlüsselerlebnis“, „Seh‘ ich noch vor mir“, „vergesse ich nie“. Die „besten Jahre des deutschen Fußballs“, wie er sie nennt, waren auch seine goldene Zeit. Franz Beckenbauer beschreibt er als Größten jener Generation, nicht nur wegen des Ballgefühls: „Er hat uns Schiedsrichter vor dem Anstoß mit Namen gegrüßt.“

Rücksicht und Respekt, die Werte lotsen Zuchantke durchs Leben. Bis heute. Er hält seinem jüngeren, an Demenz erkrankten Bruder beim Zahnarzt die Hand, kauft für seinen Etagennachbarn ein und hilft dem Hauswart auf dem Müllplatz beim Zerkleinern von Kartons.

Vermutlich pfeift er auch deshalb gern Partien von Kindern: Weil die nach einem Schuss ins Aus nicht rufen, „der Gegner war noch dran“, sondern den Ball holen, damit jener Gegner einwerfen kann. „In dem Alter sind sie noch ehrlich“, sagt er. Tricksen, Täuschen, Vorteile erschleichen, das lernen Fußballer und alle anderen offenbar erst später.

Als Zuchantke auf der Fanmeile von der Bühne steigt, fallen ihm zwei Mädchen, neun und elf, um den Hals. Ihre Eltern wanderten aus der Türkei ein. Zum Deutsch lernen und Kontakte knüpfen fing der Vater als Schiri an und lernte Zuchantke kennen. Der half der Familie beim Ankommen und durch die Bürokratiewirren. „Er kümmert sich herzlich um uns“, sagt die Frau der Familie, Kadriye Yilmaz. Ihr Mann Ali, studierter Lehrer, fährt in Berlin Taxi. Als sein Taxi kaputtging, gab ihm Zuchantke Geld für ein neues. Dabei hat ihn das Pfeifen nie reich gemacht, heutige Bundesligaschiris kassieren jährlich 60.000 Euro plus Boni und Prämien, zu Zuchantkes Zeiten gab es 24 Mark pro Spiel. Kadriye Yilmaz sagt: „Unsere Eltern sind nicht in Deutschland, aber unsere Mädchen haben Udo als Opa.“

Zuchantke, um den jeden Spieltag etliche Kinder wuseln, blieb kinderlos. Zur Bundesligazeit jettete er nach Hamburg, München, Köln. „Das hat keine Frau lange mitgemacht.“ Als er schließlich seine Lebensliebe traf, Elfie, waren beide schon über fünfzig.

Fast alle Freunde kennt er über den Fußball, doch ausgerechnet Elfie hatte damit nichts am Hut. Vergeblich versuchte er, ihr Abseits zu erklären. Sie lernten sich am Arbeitsplatz kennen, dem Vorläufer der Deutschen Rentenversicherung, wo Zuchantke bis zur Pension mit 55 blieb.

Seine Schirilaufbahn hatte er da bereits auf die Tribüne verlegt: Als Beobachter beurteilte er in den Stadien Bundesligaschiedsrichter und kümmerte sich zur Wende auch um das Einbinden der Unparteiischen aus dem Osten. Jeder Verband durfte pro vertretenen Verein einen Beobachter stellen, als Chemnitz 1996 aus der Zweiten Liga abstieg, fiel dem Nordostdeutschen Fußballverband ein Beobachterposten weg. Es traf Zuchantke.

Damals gerade 60, sagte er sich: „Ein bisschen sportlich bewegen möchtest du dich noch.“ Er wechselte zurück auf den Platz, pfiff im Berliner Nachwuchsbereich. Aus den geplanten „paar Jahren“ sind inzwischen 28 geworden.

Schirikollegen nennen ihn „Vorbild“, „Mentor“. Er zeigt ja nicht nur auf dem Platz die Richtung an, sondern auch, wie Altsein gelingt. Während viele Betagte aus dem Sichtfeld ihrer Mitmenschen geraten, zieht er weiter Aufmerksamkeit auf sich. Da muss er nur in die Pfeife pusten. Ehrenamtler leben aktiver, weniger einsam und länger, hieß es 2020 in einer Harvard-Studie. Die türkische Familie lud ihn diesen Sommer zum gemeinsamen Urlaub ein, zudem zieht er wandernd mit anderen Seniorenschiris los, Name der Truppe: „Die alten Pfeifen“.

Auf dem Platz sollen Schiedsrichter Souveränität ausstrahlen, sonst entgleitet ihnen das Geschehen. Deshalb traf er vor einer Weile den Vorsatz: „Sobald ich merke, dass ich mich zum Clown mache, höre ich auf.“ Doch die Anerkennung scheint nicht zu schwinden, sondern zu steigen mit jedem Jahr. Oft erfragen Zuschauer und Trainer neugierig sein Alter. Ihre Reaktionen: „Und da flitzen Sie hier noch so herum?“, „Alter Schwede, ich wäre froh, überhaupt so alt zu werden!“, „Wir sehen Sie doch nächste Saison wieder?“

Was er jungen Kollegen beim Plausch in den Schirikabinen rät, „zeigt keine Schwäche, tretet selbstbewusst auf“, beherzigt er selbst. So widerspricht er nicht, wenn die Leute ihn für seine Fitness feiern. Dabei spürt er seine Kräfte schwinden. Ihn plagen die Knie, er verliert an Gewicht. „Ich muss die Zähne zusammenbeißen.“

Sein größter Schmerz: Elfie ist im Januar gestorben. Bis zuletzt hat er sie zu Hause gepflegt. Wenn er ihre Bierkrugsammlung zeigt oder erzählt, wie sie es sich während seiner Beobachtereinsätze in den VIP-Logen der Stadien gutgehen ließ, strahlt und weint er im Wechsel. „Sie ist einmalig gewesen.“ Elfie verstand kein Abseits. Aber sie verstand ihn.

Dachte er in seiner Trauer daran, als Schiedsrichter aufzuhören? „Im Gegenteil“, sagt er. Die Samstagspartie nach ihrem Tod zog er durch, ließ sich sogar für ein zusätzliches Spiel am Sonntag einteilen. Hart seien die Momente des Alleinseins, sagt er. Auf dem Platz erlebt er sie nie.