Ein Boxklub in Ostdeutschland, fast schon tot. Aber dann kamen Geflüchtete und Alteingesessene, um zu kämpfen. Hier brauchen sie einander
[stern.de, Juli 2024, und stern, September 2024]
Mit 16 kam Mashal allein aus Afghanistan. Neun Jahre später, als er im Kampfdress zum Ring schreitet, folgt ihm ein langer Schweif an Betreuern, Teamkameraden, Freunden. So ist das beim Boxen: Mit den Erfolgen wächst die Entourage.
Mashal Marefat, 30 Kämpfe, 25 Siege, 86 Kilo Kampfgewicht, will Profi werden. Auf dem Weg dorthin wartet das Finale um Brandenburgs Landesmeisterschaft. Sein Gegner, ein Potsdamer, drischt direkt los. Mashal wirkt überrumpelt und kassiert knallende Kopftreffer, berappelt sich dann und donnert eine Gerade durch die Deckung des Potsdamers. Die Menge johlt. „Mashal! Mashal!“
Ein Underdog fightet sich nach oben und kämpft sich aus seinem perspektivlosen Umfeld heraus. So geht das klassische Boxmärchen. Auch Mashal lebt in einem Ort, der als trist und abgehängt gilt: Eisenhüttenstadt, von Einheimischen „Hütte“ genannt, das im Osten Brandenburgs an Polen grenzt. Seit der Wende sackte die Einwohnerzahl von über 53.000 auf unter 23.000 ab.
Im Ring geht Mashal zu Boden. Aber erst nach dem Schlussgong. Er siegt nach Punkten und fällt auf die Knie, um Allah zu loben. Seine Freunde, die ihn jubelnd umringen, mit ihm für Fotos und Insta-Storys posieren, sind ebenfalls Afghanen und leben längst in Berlin, wo es Moscheen, afghanische Communitys, Vielfalt gibt. Was hält Mashal – jung, aufstrebend, Moslem – in der ostdeutschen Provinz? Er nennt Hütte „meine zweite Heimat“, und sagt, dass er bleiben will. Viele Alteingesessene in der Stadt, Deutsche, hoffen, dass er sich an diese Worte hält.
Eisenhüttenstadt wurde 1950 feierlich gegründet, als „erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden“ und Heimat für die Arbeiter eines gewaltigen Werks, das Stahl und Eisen für den Aufbau der DDR liefern sollte. Heute liegt Hütte in Trümmern. Zumindest am Stadthafenweg. Dort werden im Frühjahr 2024 zwei Wohnkolosse weggerissen. „Zwei Schandflecke weniger“, sagt eine Rentnerin, die den Abriss mit ihrem Handy filmt. Während vielerorts massiv Wohnraum fehlt, wird Eisenhüttenstadt weiter zurückgebaut.
Auch der lokale Boxklub „SG Aufbau“ stand vor dem Aus. „Hüttenstadt war tot gewesen“, sagt Frank von Mersewsky, er meint boxerisch. 2010 war der heutige Mittvierziger einer von drei verbliebenen Sportlern, die immergleichen Einheiten langweilten ihn. Er weiß noch, wie sein Trainer sagte: „Mach den Trainerschein und übernimm den Bums.“
So kam es. Heute muss Frank Interessierte öfter abweisen. Seine Halle ist voll. „Ich weiß gar nicht, wo die alle herkommen.“ Aber das sagt er nur so. Brandenburgs Erstaufnahme für Geflüchtete steht in der Stadt.
Weil einer allein so viele Sportler nicht anleiten und bändigen kann, stehen Frank einige Männer vom alten Schlag zur Seite. Einer ist Klaus-Dieter Schmid, zweifacher DDR-Meister im Schwergewicht. Er gibt die Hand, wie andere einen Stressball quetschen.
„Trainingsgruppe, stillgestanden!“, ruft Klaus.
Die Namen der Jungs vertauscht er manchmal, aber die seiner Gegner, die weiß er noch. Als sich einmal ein Neuer vorstellt und sein Alter nennt, 22, sagt Klaus: „So ein alter Sack! In dem Alter habe ich bei der Weltmeisterschaft geboxt. Zweiundachtzig in München, gegen den Kanadier Willie DeWit.“
Wenn Klaus die Stunde beginnt, reihen sich alle der Größe nach auf. Ein weiteres Ritual aus dem DDR-Sport folgt. Klaus ruft: „Wir begrüßen uns mit einem einfachen Sport …“ – worauf die Jungs rufen: „frei!“
Bevor Frank ihn überzeugte, als Übungsleiter einzusteigen, war Klaus Jahrzehnte weg vom Boxen. In der DDR hat er Talente gesichtet, ging dafür in Schulen. „Macht ihr das heute noch?“, fragt er Frank in der Halle. „Müssen wir nicht“, sagt Frank. 2015, zur Flüchtlingskrise, „ging das mit dem Ansturm los.“ Er meint den Ansturm auf seinen Verein.
Es kamen unbegleitete Minderjährige wie Mashal. Später Kinder, die mit ihren Eltern aus Tschetschenien geflohen sind. Aktuell Ukrainer, wie der Zwölfjährige, der vor einem Training schüchtern vor der Tür steht. „Deutsch?“, fragt Frank. Wenig, signalisiert der Junge. „Lernen!“, sagt Frank. Das bläut er allen ein: Deutsch ist zwischen den Sandsäcken „Amtssprache“. Frauen die Hand zu geben, haben einige der Muslime erst im Boxklub gelernt.
Klaus sagt zu dem kleinen Ukrainer: „Stell dich gerade auf, du stehst herum wie Quasimodo.“ Gut, dass der Junge noch nicht viel versteht. Boxer tragen keine Samthandschuhe. Vor einem Kampf schnitt Klaus einem Zwölfjährigen, damit der die Fäuste des Gegners kommen sieht, kurzerhand den Pony. Viele der Jungs legen Wert auf ihre Strähnen, zupfen sie ständig im Handydisplay zurecht. Der Junge begann zu weinen. Am Folgetag meldete sich erbost die Mutter. Klaus wundert sich bis heute. „Waren doch nur die Spitzen.“
Durch die Jungs lernt Klaus mit 64 noch dazu. Bei einem Turnier packt er Gläser mit Rohkost aus, die er zu Hause zubereitet hat. „Vegan“, sagt er. „Bäh“, ruft Mago, ein 19-jähriger Tschetschene. In der Kabine entspinnt sich ein Gespräch über Esskultur, Mago erwähnt, dass Schweinefleisch „haram“ sei. „Haram?“, fragt Klaus. „Nicht erlaubt, Bruder.“ Klaus fragt, ob er für die Scharia sei, „Auge um Auge“. Das sei Saudi-Arabien, aber nicht Islam, sagt Mago. „Sie lesen zu viel „Bildzeitung“.“ Da muss Klaus lachen.
Ein paar Wochen zuvor reist die Truppe im Kleinbus zum Ostseecup. Der findet nicht etwa an der Küste, sondern in Cottbus statt, „Ostsee“ nennt die Stadt die Kohlegrube, die mittels Flutung ein Urlaubsziel werden soll.
In der Sporthalle peitschen die Springseile, die Stimmung ist gespannt wie die Hemdsärmel mancher Trainer und Funktionäre, von denen viele Stiernacken und plattgehauene Nasen haben. Das Team aus Hütte boxt sich vor den Waschraumspiegeln der Umkleide warm. Klaus schlüpft mit den Händen in die Schlagpolster und hält sie den Jungs hin: „Fester, bapp, bapp!“ In der Kabine sitzen zwei Boxerinnen aus Schwarzheide. Klaus sagt: „Und ihr seid die Amazonen von Schwarzheide?“ Die Mädchen lächeln schüchtern. Klaus, in seiner hart-herzlichen Art, hält einer die Schlagpolster hin, wärmt auch sie spontan auf: „Hau zu, dass die Heide wackelt!“
Dann motiviert er seine Meute: „Denkt dran Freunde, ihr wollt euren Vater, eure Mutter stolz machen. Und vor allem euch selbst. Es geht um euer Leben. Sieg oder Sibirien!“ Zwei Jungs lachen. „Geil, das rufen wir gleich auch“, sagt einer, „Siegodersibieren!“ Der zweite sagt: „Was heißt das eigentlich?“ Der erste: „Keine Ahnung.“
Auf in den Ring. „Weg vom Seil! Raus aus der Ecke!“, schreit Frank. Klaus fächelt den Jungs in den Pausen mit dem Handtuch Luft zu, massiert ihre Schultern. Doch es hilft nichts. Sie lassen die Deckung fallen, kraulen beim Schlagen, obwohl Frank „gerade Hände!“ ruft. Statt zu tänzeln, taumeln sie. Fast alle verlieren. Einer wirft danach die Trostmedaille weg. Ein anderer dampft ab Richtung Kabine: „Ich hör auf mit dem Scheißsport.“
Boxen lernen, das heißt: Einstecken lernen. Niederlagen und Niederschläge zu erfahren. Und immer wieder aufzustehen. Die alte Trainergarde weiß, wie das geht. Im Ring wie im Leben.
Klaus brockte der Krebs vor drei Jahren eine Odyssee durch OP-Säle ein, die Krankheit befiel Lymphdrüsen, Blase, Nieren. Klaus kämpfte sich zurück. Heute ruft er am Ring oft am lautesten, „Nachsetzen, jawoll!“, selbst bei Boxern anderer Vereine, die er gar nicht kennt. Boxen gilt als Raubbau am Körper. Einer wie Klaus lebt im Sport auf.
Da ist noch Alexander Haunschild, der gern im schwarzen „Aufbau“-Trainingsanzug aufkreuzt, Ohrring und Halskettchen glänzen golden. Er muss sich als Diabetiker viermal am Tag spritzen, hatte letztes Jahr einen leichten Schlaganfall. Danach begann er als Betreuer bei Aufbau, weil seine Enkelsöhne dort trainierten. „Ist auch ein bisschen Eigennutz“, sagt er. Um mit der Truppe mitzuhalten, stemmt er wieder Hanteln und macht Liegestütze, manchmal filmt er sich dabei. Wenn er die Videos zeigt, wirkt er stolz. Fast so wie einst.
„Ich wäre der jüngste Kampfgruppenkommandeur der Republik geworden“, erzählt er. In den DDR-Kampfgruppen waren Werktätige als eine Art Hilfsarmee organisiert. Alexander bestand die Prüfung mit Auszeichnung, im Oktober 1989. Wochen später wurden alle Kampfgruppen aufgelöst, „ich durfte nur noch meinen Spind leer räumen.“ Er wurde Turbinenfahrer und Kesselwärter im Stahlwerk, dann arbeitslos. Am Ende kümmerte er sich als Hausmeister um die Müllplätze und die Treppenbeleuchtung im „Siebten Wohnkomplex“, einer Plattenbausiedlung am Stadtrand, die inzwischen abgerissen ist.
Seine beiden Enkel sind zum Angeln gewechselt. Doch Alexander denkt nicht ans Aufhören. Jetzt, wo er sich in Form gebracht hat. Der Boxkamerad, der ihm in Jugendjahren im Kampf die Nase „verbog“, ist kürzlich gestorben. „Ich will noch bisschen älter werden als siebzig“, sagt Alexander, 69 Jahre alt.
Mashal, der Champ des Teams, trainiert auch außerhalb der Halle. Rocky schlug im Film gegen Rinderhälften, Mashal schleppt 25-Kilo-Säcke Ausgleichsmasse vier Stockwerke rauf. Für die städtische Wohnungsgesellschaft entrümpelt und saniert er Wohnungen. Der Bedarf scheint überschaubar: In der Lindenallee, zu DDR-Zeiten Prachtmeile, hängen in einigen Fenstern Planen mit aufgedruckten Gardinen, um den Leerstand zu kaschieren.
Er selbst lebt in einem Elfgeschosser im Stadtsüden. Im Wohnzimmer funkeln Pokale neben Porträts von Muhammad Ali und Ahmad Schah Massoud, der den Widerstand gegen die Taliban anführte. Seine ersten Jahre verbrachte Mashal in Asylunterkünften der Stadt. Ähnlich wie die allerersten Hüttenstädter, die um 1950 in Barackenlagern hausten, weil sich die Planstadt noch im Bau befand. Unter den Neuen waren damals, kurz nach Kriegsende, viele Vertriebene aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen. „Die Leute kamen von überall her in die neue Stadt. Sie brachten ihre Dialekte, Lebens- und Essgewohnheiten mit“, heißt es im Bericht einer Zeitzeugin.
Mashal staunt, wenn die älteren Kollegen erzählen, was in Hütte früher alles los war. „Ist sehr ruhig hier“, sagt er. Aber sein Leben sei „Arbeit, Trainieren, Ausruhen“. Deshalb passt die Stadt für ihn. Viele Leute kennen ihn inzwischen, beim Einkaufen wünschen sie ihm Glück für den nächsten Kampf.
Staub schneit, als Mashal und sein Kollege Ronny in einer Wohnung mit schwerem Gerät den abgelatschten Boden weghobeln. Ronny imponiert, dass „Maschi“ oft noch nach Feierabend arbeitet, als Türsteher. „Er ist fleißig wie Sau, weeßte?“ In der Stadt seien inzwischen viele Migranten, sagt er. „Er arbeitet, andere latschen rum.“
Deutschland zählte zuletzt deutlich mehr Angriffe auf Geflüchtete. Er selbst habe nie Ärger gehabt, sagt Mashal. Was vielleicht sogar stimmt, bei seiner Statur. Durch den Sport und die Arbeit in den Häusern spricht er viel mit Deutschen. Er sagt, er verstehe das, wenn mancher schimpft: Die Flüchtlinge seien faul und leben vom Staat. „Sie wissen oft nicht, dass viele entweder nicht arbeiten dürfen oder nichts finden.“ In Berlin würden sich Migranten untereinander helfen und mit Jobs versorgen, in einem kleinen Ort wie Hütte habe man ohne Deutsch und Kontakte keine Chance. Er selbst lernte im Verein einen Ex-Profiboxer kennen und konnte eine Lehre in dessen Fitnessstudio machen. Dort trainierte der Geschäftsführer des Wohnungsunternehmens, der Mashal schließlich für sein Hauswartteam abwarb.
Bis heute fürchtet Mashal die Ausweisung, ihm fehlt die unbefristete Bleibeerlaubnis. Sein härtester Titelkampf bleibt der um den Aufenthaltstitel. Seine Betriebsleiterin hilft bei den Formularen, die auch für sie nicht leicht zu enträtseln sind, Mashal ist der erste Geflüchtete in der Firma. „Wir geben ihn nicht mehr her“, sagt sie.
Auch sein Boxteam steht ihm bei. Wenn Klaus sich, was oft geschieht, über die Ampel-Regierung in Rage redet, stört ihn auch, dass sie „kriminelle Ausländer“ nicht abschiebt. Ihm glaubt man, dass er wirklich nur die kriminellen meint: Einem Kumpel, der für die Linke im Bundestag arbeitet, schickte er ein Video, in dem er Mashals unsicheren Status anprangert. „Wenn er abgeschoben wird, geh ich auf die Barrikaden.“
Im Boxsport mag manches antiquiert wirken, die Altersklasse namens „Kadetten“, die Kampfrichter mit Fliege um den Hals. Aber bei den Turnieren blickt man auch in eine Zukunft, die Migrationsgesellschaft heißt: Da boxen ein Hamad aus Zwickau, ein Rashid aus Bestensee, die Schwarzheiderin, der Klaus die Schlagpolster hinhielt, hat kasachische Wurzeln. Einmal motzt einer aus dem Aufbau-Team, die Jury habe ihn zum Verlierer erklärt, weil er Ausländer sei. Dann gibt er grinsend zu: Sein Gegner war wie er Tschetschene.
Erstmals seit der Wende steigt die Einwohnerzahl der Stadt, durch die Migranten. Damit zwischen Zugewanderten und Angestammten eine Gemeinschaft entsteht, muss man einander treffen – manchmal mitten auf die Zwölf.
Klar, es gab Vorfälle. Manche prügelten sich draußen herum. Doch Frank, der in Hütte auch Konzerte organisiert, hat seine Ohren überall. Mago hat eine Zeitlang beim Training „Scheibe gespielt“, also aufgemuckt und provoziert. Bis ihn Frank vor die Tür setzte. Und ihm hinterher sagte: Alle Jüngeren schauen zu dir auf. Mago entschuldigte sich. Heute bürgt Frank für ihn.
„Dicker, wo bleibst du?“, ruft Frank ins Handy. Er steht auf dem Gelände des Stahlwerks. Gleich startet Magos Einstellungstest für eine Lehre als Industriemechaniker. Die Leitung nimmt gern Auszubildende, deren Verwandte bereits im Werk arbeiten, damit die bei Problemen auf den Lehrling einwirken. Bei Mago übernimmt Frank die Rolle.
Mago bewarb sich auch auswärts, doch Frank riet zum Stahlwerk. Dort habe er alles, was er brauche, und schaffe es nach Feierabend bequem zum Training, findet Frank, der seit 1995 im Werk arbeitet, seit 25 Jahren dieselbe Frau liebt und Hütte nie verließ. Das Wappen der Stadt, eine Friedenstaube über Hochöfen, hat er auf dem Arm tätowiert.
Mago will auch den Trainerschein machen. Er betreut bereits die Kindergruppe des Vereins. Zu Beginn jeder Stunde bilden die Kinder eine Reihe. Er ruft: „Sport…“. Sie rufen: „…frei!“