In Seenot

Schweinswale sind die einzige in Deutschland heimische Walart. Doch Lärm, Explosionen, Gifte und vor allem der Fischfang bedrohen den Bestand. Unterwegs an der Küste

[Süddeutsche Zeitung, September 2021]

Wer zwischen den Wellen eine Rückenflosse erblickt, soll sofort rufen. Es sei denn, das zur Flosse gehörende Tier vollführt Sprünge, schnattert und lacht. „Das wären Delfine. Dann müsst ihr nichts sagen. Denn wir sind ja für Schweinswale unterwegs“, sagt Dagmar Struß, als die Flora II den Flensburger Hafen verlässt. Ein lockerer Spruch, den sie vermutlich vor jeder ihrer Whale-Watching-Touren erzählt.

Schweinswale sind Deutschlands einzige heimische Walart, trotz dieses Alleinstellungsmerkmals aber kaum bekannt. Eines der wenigen Bücher über sie trägt den Untertitel „Die kleinen Vettern der Delfine“, der Schweinswal erklärt sich offenbar kaum von selbst. Dagmar Struß und ihr Nabu-Landesverband Schleswig-Holstein, in dem sie stellvertretende Vorsitzende und Leiterin für Ostseeschutz ist, wollen die Aufmerksamkeit steigern: Mit gechartertem Kutter schippern sie den Mensch zum Tier. Für Wale vor Japan werde viel gespendet, sagt Struß. „Für den Schweinswal aber wird sich keiner einsetzen, wenn niemand weiß, dass es ihn gibt.“

Vor acht Jahrtausenden, als sich durch schmelzende Gletscher Ostsee und Weltmeer verbanden, strömte mit dem Salzwasser auch der Schweinswal, Phocoena phocoena, in das junge Meer, ist seither in ihm zu Hause. Doch wie lange noch?

Meeresschützer fürchten um den Bestand, eine der zwei Ostsee-Populationen soll weniger als 500 Tiere umfassen, weshalb sie die Weltnaturschutzunion IUCN als vom Aussterben bedroht einstuft. Jules Verne beschrieb die Meere einst als „lebende Unendlichkeit“, inzwischen scheinen die Tage mancher Bewohner gezählt.

Über dem Achterdeck der Flora II dräuen dunkle Wolken, es hat den Tag lang geregnet. Gut so, findet Struß. „Dann waren keine Speedboote unterwegs.“ Die Touristen-Schlauchboote, die mit bis zu 100 Sachen über die Wellen jetten, seien ein Verhängnis für Wale, berichtet sie der Gruppe und reicht ein wasserfestes Plakat mit dem Titel „Tödliche Speedboote“ herum. Auf dieser Hafentour werden nicht Küstennebel und Kaffee mit Rum, sondern schockierende Tatsachen serviert. Struß wird von Sprengungen berichten, die Wale ertauben lassen und ihre Organe zerfetzen. Von Erstickungstoden in Fischernetzen, von Geschwüren durch Gifte im Wasser, von sterbenden Seegraswiesen und abgefischten Muschelbänken, Beutegründe der Wale. „Alle großen Probleme der Ostsee betreffen den Schweinswal“, sagt sie. Sein Schicksal ist für sie ein Symbol, wie wir umgehen mit unserer See.

Kapitän Hansen, Hosenträger über dem weißen Hemd und Zigarette im Mundwinkel, hält Kurs auf die Ochseninseln, „Schweinswalarea“, wie Struß sagt. An Bord steigt die Spannung, etwa bei dem Ehepaar aus Kiel, das zwei Jahre auf der Warteliste für die Waltour stand, und den zwei Freundinnen aus Hamburg, die sich im Naturschutz engagieren und keinen Fisch mehr essen, obwohl er ihnen schmeckt.

Schließlich ein Ruf. „Da!“ Die Flora II zieht gerade an Flensburgs Marina vorbei, aber für Penthäuser und 30-Meter-Jachten hat niemand mehr ein Auge. „Was?“, „wo?“, ruft es zurück. „Steuerbord querab“, antwortet die Frau des Kapitäns, „Abstand 30 Meter“. Alle rennen zur Seite, ein kleineres Schiff bekäme Schlagseite. Aus dem Wasser lugen zwei dreieckige Finnen. Graue, glatte Haut blitzt auf, es heißt, sie fühle an wie Seide und Gummi. Man sieht die kurzen, steifen Nacken der schnellen Schwimmer, erahnt ihren Kopf, er ist vorn rundlich, nicht schnabelartig wie bei Delfinen. „Eine Mutter mit Kalb“, ruft Dagmar Struß. Schweinswale bringen jedes Jahr ein Junges zur Welt und suchen seichte Gewässer wie die Flensburger Förde auf, um es aufzuziehen. Daher die Sichtungen solcher Duos im Sommer und Herbst. „Süß!“, schallt es an Bord, „kann man richtig gut sehen, den Lütten!“, „wahnsinnig schöne Tiere“. Eine Dame im roten Regenmantel legt ihr Teleobjektiv an – aber da sind die zwei längst wieder abgetaucht.

Wer nach Schweinswalen schaut, sollte keine Sea-World-Show erwarten. Ostsee-Schweinswale, nur anderthalb Meter groß, sind nicht verspielt, sondern ruhig und scheu. Blicken lassen sie sich meist bloß für einen Atemzug; sie öffnen ihr Blasloch, machen kurz „pffft“ und verschwinden wieder im Meeresdunkel, zurück bleibt der zarte Nebel der Fontäne. Schweinswalsichtungen sind ein flüchtiges Glück, weshalb Wissenschaftler die Tiere als extrem schwer zu erforschen beschreiben.

Zumindest gilt das für lebende Exemplare. Tote Tiere landen zum Beispiel auf dem Sektionstisch von Ursula Siebert vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung in Büsum. Seit dreißig Jahren forscht sie zu Schweinswalen, der Druck auf die Tiere sei gestiegen, sagt sie. „Wir sehen deutliche Zeichen für enorme Probleme in der Population – zu viele Tiere sterben zu jung.“ Älter als 20 können die Wale eigentlich werden. Als Siebert und Kollegen in einer Studie über 200 in der Ostsee verendete Tiere untersuchten, lag deren Sterbealter im Schnitt bei unter 4 Jahren. Genau das Alter, in dem Weibchen geschlechtsreif werden. „Man kann sich die drastischen Auswirkungen auf den Bestand vorstellen“, sagt sie.

Auch zu Todesursachen forscht ihr Institut. 2019 hatten Bundeswehr-Marine und Nato im Fehmarnbelt Seeminen aus dem Krieg gesprengt, kurz darauf fand man 30 Schweinswalkadaver an den nahen Stränden. Für jedes dritte untersuchte Tier stellte Sieberts Team ein Explosionstrauma als wahrscheinliche Todesursache fest. Denn Unterwasserdetonationen, aber auch Rammungen für Offshore-Windparks, töten nicht nur Tiere in nächster Nähe, etwa durch Lungenrisse oder Hirnblutungen, sondern können auch das Gehör kilometerweit entfernter Exemplare verletzen. Schweinswale seien dann praktisch blind, verirrten sich und verhungerten, Kälber verlören ihre Mütter, hatte Dagmar Struß, die Nabu-Walkämpferin, auf der Kuttertour erzählt.

Die Miniwale finden ihre Route und Beute nicht primär mit ihren grauen Knopfaugen, sondern über ihr Gehör, per Echolokation. Dafür schicken sie Klicklaute durchs Meer, 1500 Meter pro Sekunde schnell. Treffen die Schallwellen auf einen Heringsschwarm oder Hindernisse wie ein Riff, werden sie zum Wal zurückgeworfen. Ein Fettkanal im Kiefer und ein Innenohrknöchel leiten die Informationen ins Gehirn, das baut daraus ein dreidimensionales Bild. Präzise lotst es zum Ziel. Auch bei Nacht und im trüben Wasser. Schweinswale nutzen die Hochfrequenztöne zudem zur Kommunikation, die für Menschen – anders als niederfrequentes Delfingeschnatter – nicht hörbar ist.

Weil die Tiere umgekehrt menschgemachten Lärm deutlich spüren, ziehen Nabu und Co gegen dröhnende Speedboote los. Gegen Windparkbauer, die keine schallschützenden Blasenschleier nutzen und gegen die Marine und ihre See-Sprengungen.

Die Weltkriegsmunition, 300.000 Tonnen sollen am Ostseegrund liegen, bedeutet auch ohne Knall Gefahr: Der Rost frisst Löcher hinein, Phosphor, Senfgas und weitere Bombenzutaten entweichen, schädigen das Erbgut von Fischen und Muscheln – und damit, am Ende der Nahrungskette, den Schweinswal. Die Forschung nennt ihn Zeigerart: Wie sein Zustand, so der Zustand des Ökosystems, in dem er sich bewegt. Auch Mikroplastik, Insektizide, Chloride sowie TBT, ein Gift aus Schiffsanstrichen, schwächen Immunsystem und Fruchtbarkeit der Tiere.

Das Aussterben drohe durch ein Konglomerat an Faktoren, sagt Ursula Siebert. Oft dauere es „frustrierend lange“, Forschungsgelder einzutreiben. Dabei sei dringend ein Gesamtbild nötig, wie die Gefahrenquellen sich jeweils auf den Bestand auswirken, um konkrete Maßnahmen zum Schutz abzuleiten, „zum Beispiel, wie viele Windkraftanlagen im Meer die Population verkraften kann“.

Während die Forschung über den direkten Einfluss von Lärm und Gift noch zu wenig weiß, herrscht Gewissheit über die menschgemachte Todesursache Nummer 1: Stellnetze. Eine Fangmethode der Küstenfischer, die als schonend gilt, weil vorwiegend Fische gewünschter Art und Größe ins Netz gehen. Leider auch viele Schweinswale. Die mit roten Fähnchen markierten Unterwasserzäune stehen jeweils kilometerlang und für viele Stunden vor den Küsten. Das Sonar der Wale erkennt das feine Nylongarn nicht, sie verheddern sich darin, mit jedem Flukenschlag tiefer, und ertrinken nach Minuten des Todeskampfes.

Deutschland hat Schutzabkommen wie ASCOBANS und HELCOM unterzeichnet, wies Meeresschutzgebiete aus – die aber wertlos seien, kritisieren Naturschützer, solange Stellnetzfischerei in diesen weiter erlaubt bleibe.

Wie zwei Banden ihr Viertel, so teilen sich zwei genetisch getrennte Schweinswalpopulationen die Ostsee auf. Die Grenze verläuft ungefähr bei Rügen. Die Population westlich der Insel bilden noch einige zehntausend Tiere. Östlich Rügens, in der zentralen Ostsee, wo Schweinswale bis ins vorige Jahrhundert weit verbreitet waren, lebt nur noch eine Restpopulation von vermutlich weniger als 500 Tieren, ermittelte das SAMBAH-Projekt vor einigen Jahren.

„Wenn nichts passiert, ist sehr wahrscheinlich, dass diese Population in den nächsten dreißig Jahren den Weg des Vaquita geht“, sagt Michael Dähne, Walexperte und Kurator am Deutschen Meeresmuseum Stralsund. Vaquitas sind die Schweinswale im Golf von Kalifornien. Keine zehn Tiere sollen noch existieren, 1999 hatte man 500 gezählt. Wie zuletzt in der zentralen Ostsee.

Die Bundesregierung weiß offenbar um die Lage vor heimischer Küste. 2019 machte „Der Spiegel“ eine interne E-Mail aus dem Landwirtschafts- ans Umweltministerium öffentlich. „Es liegt nahe, dass bei dieser kleinen Subpopulation höchstwahrscheinlich als einzig realistische Schutzmaßnahme nur die komplette Einstellung der Stellnetzfischerei verbleibt“, hieß es darin – um in einem weiteren Satz der Mail genau diese Maßnahme abzulehnen. Naturverbände nannten das einen Skandal, das Ministerium verteidigte sich, die handwerkliche Fischerei werde sonst aus der Ostsee verschwinden.

Muss einer weichen – Fischer oder Wal?

In Eckernförde wird versucht, beides zu bewahren. Die Strandpromenade des Küstenörtchens, im Hintergrund schaukeln idyllisch die Jagd-U-Boote des Marinestützpunkts, führt zum „Ostsee Info-Center“ (OIC). Dort koordiniert Mitarbeiter Till Holsten, 37, ein Projekt, bei dem sich Fischer freiwillig zum Schutz der Schweinswale verpflichten. Sie reduzieren in der Kalbungszeit die Längen der Netze und rüsten diese ganzjährig mit PAL-Geräten aus, welche die Wale mit imitierten Klicklauten warnen sollen. Vom eigenen Boot aus kontrolliert das OIC die Netze.

Vor allem klappern Holsten und Team die Häfen ab, um manche Ängste und Vorbehalte zu nehmen. Nicht jeder Fischer lässt sich gern reinreden in sein Tun, das er meist schon vom „Vadder“ lernte. Inzwischen aber, berichtet Holsten, machten mehr als 80 Prozent der Ostsee-Küstenfischer Schleswig-Holsteins mit.

„Wir sehen die Schweinswale ja selbst lieber schwimmen als tot im Netz“, sagt einer der vier Fischer, die Holsten für den Reporter zusammengetrommelt hat. Auch sei ein beigefangener Wal viel Arbeit, sagt ein Kollege, man schneide mit dem Messer sein Netz kaputt. Dann lieber die PALs „antüdern“. Um über 70 Prozent könnten die Geräte den Beifang senken, sagt eine Thünen-Studie.

Eine Erfolgsgeschichte. An die längst nicht jeder glaubt. Als das OIC das Projekt 2018 auf dem Naturschutztag in Kiel vorstellte, seien sie „zerpflückt“ worden, sagt Till Holsten. Von den Naturschutzverbänden. Die kritisieren unter anderem die fehlende rechtliche Bindung der Maßnahmen. Und dass an den Tests mit dem 70-Prozent-Ergebnis der Hersteller der PALs mitwirkte. Auch sei nicht erforscht, ob ein Gewöhnungseffekt einsetze, der die Tiere letztlich anlocke. Studien dazu starten bald – während die Geräte längst im Einsatz sind. Kritikpunkte, die Till Holsten einräumt. Die Vereinbarung sei nicht ideal, „aber ein Schritt nach vorn“. Bei einem Reizthema wie strengerem Schutz hat man die Fischer zur Kooperation gewonnen.

Auch laut Michael Dähne vom Meeresmuseum lässt sich der Schweinswal nur mithilfe der Fischer retten. Ihr Praxiswissen sei wertvoll, zudem brauche es für Sektionen und belastbare Beifangdaten Fischer, die verendete Tiere melden und nicht heimlich im Meer entsorgen. Das OIC hat dafür einen anonymen Abholdienst auf See eingerichtet. „Mit totem Schweinswal an Deck in den Hafen einlaufen und die Touristen machen Fotos – davor graut es jedem Fischer“, sagt Holsten.

Zu klagen gibt es genug. Die vier Fischer berichten von Fangquoten, Fischschwund, Heringssterben. Wer fährt noch zwei Uhr nachts zum Netze stellen, wenn kaum was drin landet? Michael Petersen, einer der vier, erzählt: „Früher konntest von einer Hafenseite zur anderen gelangen, ohne nasse Füße zu kriegen, so viele Kutter hatten wir hier.“ Lange vorbei. Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern melden dramatische Rückgänge an Fischereibetrieben. „Wer heute noch Geld verdienen will, muss raus zum Atlantik. Der Beruf des Küstenfischers ist fast Geschichte“, sagt Kollege Manfred Potratz. Er sei 76, die meisten anderen Fischer im Ort kaum jünger. Das Problem der Schweinswale, sagt er und blickt zu Till Holsten, „regelt sich eigentlich von ganz allein. Ihr braucht nur noch ein bisschen Geduld“.

Die Tiere hätten vielleicht ein Problem weniger. Gesichert wäre ihr Fortbestand aber auch ohne die Tode im Netz noch nicht, sagen Ursula Siebert und andere Forschende. Die Ostsee, sie bliebe ein gefahrenvolles Meer.