Per Anhalter durch den Ozean

Plankton dominiert die Meere und versorgt den Planeten mit Sauerstoff. Nun versetzt der Klimawandel die für das menschliche Auge unsichtbaren Kleinstlebewesen unter Stress. Wie kann man sie retten?

[Süddeutsche Zeitung, April 2022]

Auch wem im Leben der Antrieb fehlt, wer sich einfach treiben lässt, kann unentbehrlicher Teil der Gemeinschaft sein. Das Plankton macht es vor. Der Begriff aus dem Altgriechischen (plagktos = umherschweifend) benennt alle Lebewesen, die in Gewässern nicht aktiv schwimmen, sondern nur driften. Statt Flosse oder Tentakel nutzen sie Wellen, Wirbel, Strömungen. Per Anhalter durch den Ozean.

Plankton bildet rund 90 Prozent der Biomasse in den Weltmeeren und für deren Tierwelt die Nahrungsbasis. Ohne Plankton ginge uns rasch der Fisch aus. Und die Luft: Die pflanzlichen Vertreter des Planktons, das Phytoplankton, erzeugen mindestens so viel Sauerstoff wie alle Bäume und Pflanzen an Land, jeden zweiten Atemzug verdanken wir dem Meer. Zudem entziehen sie der Atmosphäre gigantische Mengen an Kohlendioxid.

Man nennt sie daher auch „Wälder der Meere“. Doch während uns die Klimaauswirkungen auf die echten Bäume schmerzlich bewusst sind, seit jeden Sommer irgendwo ein Jahrhundertbrand wütet, gerät das Plankton viel seltener in den öffentlichen Blick. Weil die meisten Arten unsichtbar für das bloße Auge sind? Aufhorchen ließ 2010 eine im Fachjournal Nature veröffentlichte kanadische Analyse, wonach die Planktonkonzentration in mehreren Weltregionen dramatisch geschwunden sei. „Nahrungskrise im Ozean“, „Die Meereslunge schrumpft“, „Das tote Meer“ titelten daraufhin weltweit Zeitungen.

Fischsterben, Todeszonen, Plastikinseln – was heißt all das fürs Plankton? Und, zu den Wäldern der Ozeane: Die Bäume an Land gelten ja auch als potenzielle Klimaretter, Milliarden fließen in Waldentwicklung und Pflanzaktionen – ließe sich auch Plankton noch stärker einspannen? Gibt es Aufforstungsprogramme im Meer?

Am Kieler Fördeufer steht das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Zwölf Jahre lang verschrieb sich der Meeresbiologe Ulf Riebesell der zunehmenden Versauerung der Ozeane, heute sagt er: Die ist nicht das größte Problem für Meereswelt und Plankton. Ebenso wenig wie Müllstrudel, Mikroplastik oder Sauerstoffschwund. „Es ist die Erwärmung, die die gravierendsten Auswirkungen hat.“

Die Hitze mache den Ökosystemen doppelt zu schaffen. Erstens: Die Meere schichten sich stärker. Das warme, leichtere Oberflächenwasser liegt wie ein Deckel auf den kälteren Schichten und vermindert eine Durchmischung, weniger Nährstoffe aus der Tiefe gelangen hinauf, „und das Plankton wächst weniger“. Phytoplankton lebt in den oberen 200 bis 300 Metern, wo genug Sonnenlicht für ihre Fotosynthese eindringt. Und Zooplankton, das tierische Plankton, hält sich, da es Phytoplankton frisst, in den gleichen Gefilden auf.

Problem zwei seien Hitzewellen. „Sie erleben wir immer häufiger.“ Über Wochen klettern die Temperaturen auf Werte, an die die Organismen der jeweiligen Meeresregion nicht angepasst sind. Viele Lebewesen haben ihr physiologisches Optimum in einem engen Temperaturbereich. Im Hitzestress wächst der Energieverbrauch, im Hochsommer schlaucht schon der Gang zum Supermarkt. Die zusätzlich verbrannte Energie müssen die Plankter (so heißen einzelne Organismen des Planktons) woanders einsparen, beim Wachsen, ihrer Reproduktion oder beim Bilden vom Kalkgehäusen, die vor Fressfeinden schützen. „Das alles beobachten wir“, berichtet Riebesell. Das Geomar dokumentiert unter anderem mit Mesokosmen, übergroßen Reagenzgläsern im Meer, wie Planktongemeinschaften auf sich wandelnde Umwelteinflüsse reagieren. Andere Studien basieren auf Satellitenbildern und Modellen. Dabei prophezeien viele Untersuchungen einen Artenverlust. Aber nicht, weil das Plankton massenhaft einginge. Sondern es verdrängt sich selbst.

Denn viele Spezies harren nicht einfach ihrem Ende entgegen wie der Frosch im Kochtopf. Laut dem Wissenschaftsreport „World Ocean Review“ verschiebt sich das Phytoplankton des Nordatlantiks seit den 1950ern pro Jahrzehnt um mehrere Hundert Kilometer nördlich, Zooplankton-Gemeinschaften treibt es ebenfalls polwärts – sie wandern ihrer Wohlfühltemperatur hinterher. Und gelangen damit in die Reviere anderer.

Die Lebensräume im Ozean gliedern sich in unzählige ökologische Nischen. Jede sei umkämpft, sagt Riebesell. „Da geht es um Nährstoffe, um Licht, Raum, Schutz vor Feinden. Ist ein Organismus durch einen Stressor von außen, ob Hitze oder Versauerung, in seiner Nische nicht mehr konkurrenzfähig, kommen andere und besetzen sie.“ Mit Planktonrekordern ließ sich im Nordatlantik nachweisen, dass der dort angestammte, reiskorngroße Ruderfußkrebs Calanus finmarchicus seinem Verwandten aus dem Süden, Calanus helgolandicus, weichen muss.

Das Verschwinden einer Spezies ermöglicht einer anderen die Ausbreitung. Von einem globalen Massensterben der Planktongemeinschaft geht die Forschergemeinschaft daher heute nicht aus. Was aber nicht heißt, dass alles halb so wild wäre.

Denn die Neuankömmlinge sind oft winziger als die von ihnen verdrängten Arten. Kleinere Körper haben weniger Volumen im Verhältnis zu ihrer Oberfläche, was sie genügsamer macht, ein Vorteil in Zeiten des Nährstoffmangels. Forschende sehen einen Trend. „Das Plankton verzwergt“, sagt Ulf Riebesell. Das hat Folgen für Nahrungskette und Fischbestände: Schrumpfende Portionen erschweren die Futtersuche der Planktonjäger.

Auch die biologische Pumpe könnte ins Stottern kommen. Phytoplankter nehmen CO2 aus der Atmosphäre auf, sterben sie, rieseln ihre Überreste – oder der Kot ihrer Fressfeinde – zum Meeresgrund, wo das CO2 lange bleibt. Der Tiefentransfer funktioniert umso besser, je größer und schwerer Plankton ist. Eine Studie der ETH Zürich erwartet daher eine sinkende Effizienz der Pumpe in Regionen, in denen kleinere Arten auf dem Vormarsch sind.

Aktuell geht die Forschung von mehr als einer Million Planktonarten aus, knapp ein Viertel ist beschrieben. Dazu zählen Nesseltiere, die ihre Beute mit klebrigen Fangarmen Richtung Mund befördern, genauso wie Kieselalgen, deren Kettenglieder durch Schleimbrücken verbunden sind. Es gibt Kopffüßer, die ihre Farbe wechseln, um zu kommunizieren, und Quallen der Gattung Turritopsis, die als potenziell unsterblich gelten, weil sie ihren Entwicklungszyklus umkehren können. Flohkrebse der Gattung Phronima besitzen rote Komplexaugen und zwei Klauen, mit denen sie Gallerttiere schnappen und filetieren, aus ihren Hüllen bauen sie sich tonnenförmige Häuschen. Angeblich inspirierten sie das Design der Monster aus den „Alien“-Filmen.

Plankton mag wirken wie von einem anderen Stern, zählt aber zu den ältesten Erdbewohnern. Blaualgen haben im Urozean vor 2,5 Milliarden Jahren Sauerstoff in die Atmosphäre gepumpt, was Wasser und Himmel blau färbte und die Ozonschicht entstehen ließ, Schutzschirm vor tödlicher Weltallstrahlung. Das ermöglichte eine Evolution höherer Lebewesen bis zum Menschen. Nun prägt der das Klima.

Recht tapfer trotzt Plankton den Umständen. Vor allem dank seiner Schnelllebigkeit. Anders als etwa der bedrohte Hering, der mit frühestens drei Jahren erstmals laicht, bringen manche Algen hundert Generationen im Jahr hervor. „Hundert Generationen bedeutet, jede Zelle hat sich hundert Mal geteilt. Und dabei hat sie jedes Mal die Möglichkeit, ihr Erbgut zu verändern, um sich genetisch an Umweltveränderungen anzupassen“, sagt Elisa Schaum.

Die Planktonökologin der Uni Hamburg forscht mit ihrem Team zum evolutionären Potenzial des Phytoplanktons. Sie führt durch die Laborräume ihres Instituts. „It’s pretty!“, ruft Schaum, als ihr eine Doktorandin eine glitzernde Kieselalge unterm Lichtmikroskop zeigt, die im Original 0,05 Millimeter groß ist und aus der Elbe stammt. Im Labor reisen Algen und Plankton in die Zukunft. „Wir werfen das Plankton von heute aber nicht einfach in den Ozean von morgen“, sagt Schaum. Schließlich reproduziert es sich rasant, Mikroevolutionen heißen solche Anpassungen innerhalb einer Spezies. „Wenn wir sie im Frühling untersuchen und später während einer Sommer-Hitzewelle, dann können wir messen, dass die Sommer-Generationen viel höhere Temperaturtoleranzen entwickelt haben.“

Für die Experimente verbringen die Proben Monate in Inkubatoren, regelbare Lichtlevel, CO2-Gehalte und Temperaturen simulieren Klimawandel im Zeitraffer. Kieselalgen etwa, deren Komfortzone 22 Grad beträgt, schwimmen dann in 26 Grad, ein Anstieg, wie ihn der Weltklimarat für einige Meeresregionen erwartet. „Und wir beobachten tatsächlich: Manche Organismen kommen mit der Erwärmung gut zurecht“, sagt Schaum.

Leider nicht alle. Zu den Verlierern im Klimawandel, vermuten Forschende, könnten zum Beispiel die Coccolithophorida zählen, einzellige Algen, die durch Hitze und Versauerung Mühe haben, ihre Kalkschalen zu bilden und instand zu halten.

Mögliche Gewinner sind im Sommer vor vielen Stränden zu sehen, wo sich das Wasser grün färbt oder sich Teppiche aus grau-braunem Schleim bilden, die Fische und Muscheln vergiften. Die toxischen Algen setzen zwar ebenfalls Sauerstoff frei und binden CO2. Bloß rettet das kaum ihren Ruf. Da sie vor Küsten treiben, sinken sie mit ihrem Tod nicht zum Tiefseegrund, sondern bleiben oberflächennah, wo Bakterien sie schnell zersetzen und das CO2 wieder entweicht. Und zusätzlich oft Lachgas und Methan, noch stärkere Treibhausgase.

In der Natur kommt es eben auf das Gleichgewicht an. Vor allem der Kohlenstoffkreislauf der Erde gerät durcheinander, seit Abermillionen Jahre altes Plankton als Erdöl und Erdgas in Öfen und Ottomotoren verheizt wird. Heutiges Plankton soll helfen, die Balance wiederherzustellen. Fünf Jahre ist das her, da blickte Ulf Riebesell mal nicht auf das ozeanische Leben, sondern auf sein eigenes. Noch zehn Jahre bis zum Ruhestand. Er war frustriert: Auf etlichen Konferenzen hatten Forscherkollegen und er mahnende Vorträge zu Versauerung, Erwärmung und Sauerstoffverlust gehalten. Was es brachte: „Gar nichts“, sagt er. „Wir sind seither keinen Schritt weitergekommen, was die Reduzierung der CO2-Emissionen betrifft.“

Für eine Chance auf das 1,5-Grad-Ziel müsste der globale Ausstoß jährlich um sieben Prozent sinken. Tatsächlich steigt er, Deutschland verzeichnete 2021 ein Plus von 4,5 Prozent. Riebesell jedenfalls beschloss: Statt Forschungsaussagen weiter zu verfeinern, die Politik und Öffentlichkeit ohnehin kaltließen, wollte er Lösungen anbieten.

Im März lief der Kick-off für das Großprojekt CDR Mare – CDR steht für Carbon Dioxide Removal, also Kohlendioxidentnahme -, das der Bund mit 27 Millionen Euro fördert. Das Geomar und 21 weitere Einrichtungen erforschen, ob sich die natürlichen Prozesse im Ozean künstlich verstärken lassen, um mehr CO2 aufzunehmen.

Riebesell koordiniert das Teilprojekt „TestArtUp“: Wellenpumpen befördern nährstoffreiches Tiefenwasser in die Oberflächenschichten, um das Planktonwachstum zu beflügeln. Im Sommer starten Tests südlich der Kanaren. Für solche Projekte hat sich der Begriff Geoengineering etabliert. Riebesell mag ihn nicht. Man könne Natur nicht planen wie der Ingenieur eine Brücke. „Dafür verstehen wir die Vorgänge auf der Erde viel zu wenig.“

Manchmal läuft weniger das Projekt aus dem Ruder, als vielmehr die Kritik daran. Früher forschte Ulf Riebesell an der Eisendüngung mit. Oft begrenzt Eisenknappheit das Phytoplankton-Wachstum. In zwölf Experimenten wurde zwischen 1993 und 2005 gelöstes Eisen im Südlichen Ozean injiziert, was die Algen tatsächlich sprießen ließ. 2009 brach das Forschungsschiff Polarstern zur 13. Studie auf – und kam nicht weit. Naturschützer fürchteten die Folgen für die Meereswelt. Schließlich forderte auch das Bundesumweltministerium den Stopp des Experiments. „Danach war Eisendüngung als Forschungsthema verbrannt“, sagt Riebesell. Inzwischen hat sich die Skepsis gelegt und erste Gruppen nehmen den Faden wieder auf.

Elisa Schaum nennt solche Eingriffe „extrem spannend“, aber auch mutig. Wälder aufzuforsten, sagt sie, sei eine Sache, mit denen kenne der Mensch sich aus. Marine Ökosysteme hingegen seien eine Blackbox. „Sie sind so vielschichtig und wir wissen so wenig über ihre Biologie, dass mir ein bisschen unheimlich wird, wenn man versucht, daran rumzudrehen.“ Zunächst müssten wir den Ozean richtig verstehen.

Andere fürchten, dass so viel Zeit nicht bleibt. „In den nächsten fünf bis acht Jahren muss etwas passieren“, sagt Riebesell. Den größten Effekt erhofft er sich von einem weiteren CDR-Mare-Vorhaben, der Alkalisierung. Neben dem Plankton befördert auch das Meerwasser selbst CO2 aus der Atmosphäre in die Tiefe. Dieser Prozess läuft langsamer, seit die Meere sich erwärmen und zudem versauern, also ihre CO2-Sättigung steigt. Löste man gewaltige Mengen alkalischer Mineralien im Ozean, so der Ansatz der Forscher, ließe sich dessen CO2-Aufnahme wieder ankurbeln. Wo Schiffe oder Anlagen die Mineralien einbringen, könnte allerdings das Plankton beeinträchtigt sein, weil im Wasser zeitweise weniger CO2 für ihre Fotosynthese steckt. Mit Versuchen zuletzt vor Gran Canaria und bald vor Norwegens Küste und vor Helgoland will das Projektteam sicherstellen, dass die Folgen für das Plankton keine gravierenden sind. Mögen die winzigen Meereswesen auch wandern und weiter verzwergen: Verschwinden dürfen sie schließlich nicht.