Zu gut

Es gab einmal unzerbrechliche Trinkgläser in Deutschland.
Sie hießen Superfest und waren eine Erfindung von Chemikern
der DDR. Warum wurden sie kein Welterfolg?

[ZEITmagazin, November 2020]

In der DDR waren alle gleich. Also die Biergläser, in den Achtzigerjahren. Da stand ein ganz bestimmtes Glas von Stralsund bis Suhl auf ziemlich jedem Kneipentresen, reiste im Mitropa-Speisewagen mit, Interhotels servierten darin Ginger Ale. Es war dünnwandig und hatte in der Mitte einen Wulst, darüber wurde es breiter. Eine schlichte Gestalt für ein revolutionäres Produkt. Das angeberischste an dem Glas war sein Name: Superfest. Und den hatte ihm ein Westdeutscher verpasst.

Im Dorf Schwepnitz bei Dresden, wo das Glas hergestellt wurde, sagt bis heute jeder „CV-Glas“ dazu. CV, für chemisch verfestigt. Dank dieses Verfahrens überlebten die Gläser fast jeden Sturz. Der Betriebsdirektor warf vor Delegationen gern eins hinter sich, was keine Scherben, sondern Staunen hinterließ. Das Glas bekam so schnell keiner kaputt. Die Macher zogen aus, den Weltmarkt zu erobern. Doch seit Sommer 1990 wird Superfest nicht mehr produziert.

Wie ein Trupp Entrümpler den Haushalt eines Verstorbenen auflöst, so unsentimental wurde damals im Osten aufgeräumt. Ein Land zum Vergessen, die DDR. Wäre manches Entsorgte noch brauchbar gewesen? Ein Produkt, dessen extralanges Leben Unmengen Rohstoffe und Energie spart, klingt heute, wo alle über Nachhaltigkeit reden, nach einer spannenden Idee. Superfest aber kennt kaum noch einer. Was ist schiefgegangen?

Ums alte Kesselhaus huschen Schafe, in den Sohlen knirscht Bruchglas, von der Materialhalle ragt nur der Mauerfuß aus der Erde. Das Schwepnitzer Glaswerk – eins der vielen Trümmerfelder der Ostindustrie, ein Lost Place ohne Touristen. Peter Sonntag, 68, hat gerne zugesagt, durch die Werksruinen zu führen. Die selbsttönenden Brillengläser verbergen nicht die leuchtenden Augen. „Das war meine Zeit, hier“, sagt er. Aus seinem Zahlenschloss-Aktenkoffer zieht er den alten Arbeitsvertrag. „Leiter der Abteilung Investionen“, hieß seine Stelle. Im Mangel Gabelstapler und Kräne ranschaffen, die Stromversorgung sichern. Ihm halfen sein guter Draht zum Ministerium – „ich hab die Kombinatsleitung übergangen“ – und „Koffer voller Glas“: Handgeschliffene Bowlegefäße aus dem Werk waren einst heiß begehrt.

Not machte erfinderisch. So kam ja überhaupt auch Superfest zustande. Anfang der Siebziger hatte der DDR-Ministerrat die Entwicklung „hochfester Gläser“ beschlossen. Die sollten weniger die Umwelt retten – der Staat blieb bis zu seinem Ende ökologisches Krisengebiet – sondern die chronisch knappen Rohstoffe schonen. Außerdem klagten Gaststätten über Gläsermangel. Es wurde von Festen berichtet, auf denen das Volk Bier aus Pappbechern trank.

Im alten Pförtnerhaus, das zu den Schichten mehr als 700 Arbeiter passierten, holt Sonntag den Schlüssel fürs Verwaltungsgebäude. Als er dort eintritt, sagt er: „Oh Gott, hier sieht es ja noch schlimmer aus“. An den Wänden Schimmel, auf den Böden zerfledderte Aktenordner und zerkloppte Computermonitore. Sonntag kickt Bauschaum beiseite, tritt ins Musterzimmer, das er für Großkunden einrichten ließ, mit polierten Vitrinen, Pendelleuchten und Wabenelementen an der Decke, „damals hoher Standard“. Heute liegt Mäusekot auf dem Tresen. „Türlich, es tut weh. Sie müssen damit leben, Nachtrauern hat keinen Zweck.“

Er verschweigt nicht, nach seiner Glaszeit ein Jahr arbeitslos gewesen zu sein. Das nutzte er für einen Lehrgang in BWL und Bilanzierung. Er wurde Unternehmensberater, managt heute managt im Nachbarort Königsbrück das Zweimillionenprojekt einer Kartonagenfirma. Karton wird gebraucht, jeder verpackt und verschickt ja so viel. Warum braucht das CV-Glas keiner mehr? Sonntag versteht nicht, warum sich für diese Technologie heute niemand mehr begeistert. „Alles soll kaputtgehen, die Leute sollen konsumieren auf Teufel komm raus.“

Glas bricht wegen mikroskopisch kleiner Risse auf der Oberfläche, die bei der Herstellung entstehen. Das Zentralinstitut für Anorganische Chemie hatte 1973 in Rossendorf bei Dresden die Abteilung Glasstrukturforschung gegründet. Deren Forscher ersetzten die kleineren Natrium-Ionen der äußeren Glasschicht durch größere Kalium-Ionen. Die brauchen mehr Platz, drücken gegen ihre Nachbaratome und bauen dadurch eine starke Spannung auf. Die ist zu überwinden, bevor ein Mikroriss zum großen werden kann. Wie im vollen Fahrstuhl, jeder fährt die Ellbogen aus: Da kommt keiner mehr rein oder raus.

Um die Erfindung auf Industriemaßstab zu hieven, stieg der Wissenschaftlich-Technische Betrieb für Wirtschaftsglas in Bad Muskau ein, dazu der Jenaer Glasofenbau. Ihre erste Versuchsanlage: Ein Monstrum aus Eimern, Ketten, Kupplungen und Motoren, interne Spötter tauften sie „Nautilus“. Sie tauchte die Gläser ins geschmolzene Kaliumsalz. Weil man aber leichter eine Flüssigkeit bewegt – Pumpe reicht –, ertüftelte die Truppe eine zweite, gänzlich neue Anlage. In der regnete das flüssige Salz auf die Gläser.

Millionen summierten sich. Die Finanzierung sicherte der Ministerratsbeschluss vom November 1978, er machte das Glas zum „Vorhaben von besonderer Dringlichkeit“, es sollte Warenqualität und Exportkraft steigern. Zur Produktionsstätte erkor man den VEB Sachsenglas in Schwepnitz, seit 1865 Glasmacherdorf. Am 4. Juni 1980 ratterten die ersten Gläser aus der Verfestigungsanlage, seidig und weiß vom Salz. Der Betriebsdirektor im Kittel spendierte Sekt. Sie stießen auf eine große Zukunft an.

Laut den Forschern sparte das verlängerte Leben 10.000 Tonnen Glas und 20.000 Megawattstunden Energie im Jahr. Dafür gabs Gütezeichen „Q“ – Spitzenerzeugnis über Weltmarktniveau. Heute predigen Wirtschaftslenker grünes Produzieren, doch Superfest gibt es nur antiquarisch zu kaufen, es steht in keinem Einrichtungshaus – dafür im Baruther Museumsdorf Glashütte. Dort läuft derzeit eine Sonderausstellung. Die ostdeutsche Glasindustrie in den Treuhandjahren. Sie zeigt das große Sterben. Am Eingang: eine Vitrine mit Superfestgläsern.

Dabei trifft die Treuhand keine Schuld.

Wie andere Branchen beauftragten die DDR-Glaskombinate in den Achtzigerjahren Handelsvertreter aus dem Westen damit, die Waren dort loszuschlagen. Superfest als

Devisenbringer. „Export in Höhe von 3,7 Mio M(ark) in das NSW (Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet) sind mit dieser Anlage jährlich vorgesehen“, hieß es im Ministerratsbeschluss. Den Job übernahm Eberhard Pook, heute 81. Er lebt in Werschenrege bei Bremen.

„Ich bin von der Produktion total überrascht worden“, erzählt er. „Gläser, die nicht mehr kaputtgehen!“ Den Namen Superfest habe er angeregt. Bei „chemisch verfestigt“ dächten Leute an Chemie, ungünstig für ein Trinkglas. Es gab mehr als ein Dutzend verschiedene Modelle, auch Gläser für Schnaps und Sekt waren darunter und drei unterschiedliche Größen für Bier.

Pook und die Schwepnitzer Absatzleitung reisten zu den internationalen Handelsmessen Leipzig und Frankfurt. „Wir haben eine Wand aufgebaut, wo wir die Gläser stapelten. Guckt euch das an, bruchfest! Keine Reaktion“, erzählt Pook. „Ich hatte beste Verbindungen zu allen Großkunden, bei Coca Cola zum Beispiel hieß es, warum sollen wir ein Glas nehmen, was nicht kaputt geht, wir verdienen Geld mit unseren Gläsern.“ Wie viel er verkauft habe? Nicht ein Stück. „Die Händler sagten verständlicherweise, wer sägt schon den Ast ab, auf dem er sitzt.“

Gundula Bunk, die in der DDR sozialistische Betriebswirtschaft studierte, mit Anfang zwanzig im Glaswerk anfing und dort schnell zur Planungschefin aufstieg, lebt noch heute in Schwepnitz. Sie bestätigt Pooks Version. „Dass man diese Absatzunsicherheiten nicht vorher einkalkuliert hat: Ja, das ist so. Heute ist der Markt das allerwichtigste. Bei uns war das irgendwie ein bisschen andersherum. Da hat man zuerst an die Produktion gedacht.“

Im Osten funktionierte Superfest. Zu gut. Die fünffache Lebensdauer eines herkömmlichen Trinkglases, das hatten die Forscher als Ziel ausgegeben. Nach einigen Jahren im

Gebrauch zeigte sich: Die Gläser hielt eher zehn- bis fünfzehnmal so lang. Die Gaststätten wurden mit ihnen überschwemmt, wollten bald keine weiteren mehr.

In Schwepnitz wussten sie bald nicht mehr, wohin mit den Gläsern. Vor der CV-Halle wuchsen lange Reihen von Gitterboxpaletten, schließlich stand der Hüttenhof voll. Regen suppte durch die Planen, weichte die Kartons auf. Doch die Produktion ließ sich nicht pausieren, erklärt Gundula Bunk. „Das geht in der Glasindustrie nicht. Sie können die Schmelzwanne nicht abschalten, dann wird das Glas hart und die Wanne ist hinüber.“ Um die Maschine am Laufen zu halten, wird unverdrossen weiterproduziert.

In der Süddeutschen Zeitung von 2015 macht ein Experte für DDR-Design einen „westdeutschen Glasmacher“ für das Produktionsende verantwortlich: „Der hat eine Betriebsversammlung abgehalten und erklärt: Sie werden größtenteils Ihre Arbeitsplätze verlieren. Ich bin doch nicht verrückt und lasse hier Gläser herstellen, die unzerbrechlich sind. Eine Erzählung, die ins ostdeutsche Bild der Nachwendejahre passt. Aber nicht stimmt.

1990 beschlossen Kombinat und Werksführung für Juli das Ende der Superfestproduktion. Westliche Berater hätten nicht reingeredet. „So weit haben wir ja durchgesehen, was noch rentabel ist und was nicht“, sagt Bunk. Nach insgesamt 120 Millionen Superfestgläsern wurde die Schmelzwanne „abgetempert“, kaltgemacht. Die CV-Anlage holte der Schrotthändler. Kein Treuhand-Manager oder West-Investor, die betriebseigene Führung unterschrieb Entlassungen. Von 700 auf 100 Mitarbeiter, um die Reste des Werks in die Marktwirtschaft zu retten.

Vom DDR-Philosophen Lothar Kühne stammt eine Kritik an den Merkmalen „kapitalistischer Warenproduktion“. Auf kurze Nutzung ausgelegte Dinge, die mehr zu sein scheinen, als sie sind, führten zur Enteignung der Konsumenten. Dagegen entstehe durch Einfachheit der Produkte sowie durch Maßhalten im Gebrauch: Genuss. Kühne starb 1985. Am 1. Juli 1990 kam die D-Mark in den Osten – mit ihr die neue Warenwelt. Mancher Schwepnitzer erinnert sich noch an das Schuttloch, das am Werksgelände entstand. Darin lagen bald bergeweise Salz- und Zuckertütchen aus DDR-Produktion.

„Die Leute wollten eben Westzeug haben“, sagt Uwe Jähnig. Er lernte im Glaswerk Elektriker und hat auf dem Gelände sein kleines DDR-Museum eingerichtet. Ein Gnadenhof für Objekte, für die man Stunden anstand, gar Jahre warten musste – und die dann nicht schnell genug verschwinden konnten. Draußen rosten Trabbiteile, innen stehen Fernseher aus jener Zeit, als deren Anschaffung sich noch einprägte wie die Geburt eines Kindes.

Fürs Gespräch hat Jähnig zwei Kollegen hinzugeholt. Harald Jobst, der beste Anlagenfahrer im VEB, das weiß jeder im Ort, trudelt per Fahrrad ein, Stoffbeutel am Lenker. Früher standen zig Räder vor den Schwepnitzer Arbeiterwohnblöcken, für den kurzen Weg ins Werk. Heute parken da Autos, zum Pendeln. Und Jürgen Lauke kommt, gelernter Glasmaschinenmacher, studierter Ingenieur, in der CV-Halle hatte er zur Schicht „den Oberhut auf“.

Lauke, heute 62, ging aus Schwepnitz nie fort. Man verlässt nicht so leicht, was man selbst mit aufbaut. „Schaufeltage“ hießen die organisierten Arbeitseinsätze. In Eigenleistung bauten sie das alte Lager zur Kantine um, dort gab‘s riesen Pötte Eierflockensuppe, man musste keine Schnitten mitnehmen. Im Ort zogen die Glaswerker die Kinderkrippe, die Kaufhalle hoch, geht auf keine Kuhhaut, was sie mit Asbest hantieren, sagt Lauke. Aber: „der Zusammenhalt.“

Nach der Wende durfte Lauke im Werk bleiben. Das hatte sich auf die neuen Verhältnisse eingestellt, setzte statt auf Bierbecher – die lieferten den Kneipen nun die Brauereien – auf dekoratives Glas und manuelle Fertigung. Doch in China, der Türkei machten sie auch schöne Schalen. Dann schossen die Gaspreise hoch. 2006 ging Glasax, wie der Betrieb dann hieß, in Insolvenz. Es übernahm Walther-Glas aus Ostwestfalen. Ab Anfang 2011 zahlte die Firma keine Gehälter mehr, was Zeitungsberichte bestätigen, offenbar hatte sie sich mit Werkskäufen übernommen. Das war das Ende. „Das Glaswerk hat den Ersten Weltkrieg überstanden, die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und den Sozialismus“, sagt Harald Jobst. „Und dann kommen die Wessis, und das Ding ist weg.“

Zum Schluss ein Treffen mit zwei Männern, die für den Anfang stehen. Andreas Kolitsch und Edgar Richter gehörten als Chemiker zum Forscherteam in Rossendorf, wo die Aktion verfestigtes Glas 1973 Fahrt aufnahm. Sie waren weltweit die Ersten, die am Verfahren forschten, versichern sie. Später zogen andere Nationen nach. Seit ein paar Jahren wird der Ionenaustausch, der Superfest superfest machte, anderweitig genutzt: für robustes Smartphoneglas. „Da dachten wir: Na gut, haben wir in der DDR doch nicht nur Blödsinn gemacht“, erzählt Kolitsch gut gelaunt.

Wie bei fast allen Gesprächen steht auch in diesem irgendwann ein Superfestglas auf dem Tisch. Kolitschs letztes. Die anderen gingen nicht kaputt, er hat sie verschenkt. Die Geschichte von Superfest hätte auch anders verlaufen können, sagt er. „Man hätte den Weltbedarf ausrechnen können und wenn der gedeckt gewesen wäre, jedes Jahr vielleicht noch drei Prozent nachproduziert. Eigentlich eine gute Sache“, sagt er. „Nur nicht ökonomisch für die, die es herstellen.“ Sein Kollege Richter sagt: „Das Problem ist auch, Design nutzt sich optisch ab. Ich will gar nicht, dass mein Bierglas zehn Jahre hält. Das kann nur von oben verordnet werden – und dazu war der Sozialismus natürlich hervorragend geeignet.“

Superfest hat die DDR inzwischen um 30 Jahre überlebt, man kann die verbliebenen Exemplare gut erhalten kaufen, zum Beispiel bei Ebay. Dort haben sie ihren Preis: Zwölf Halbliter-Gläser gibt es für 59 Euro, plus Versand.