Versammlungsfreiheit

Bald wird in Sachsen gewählt. Alle reden vom Rechtsruck, der das Land politisiert. Was treibt die Bürger noch um, jenseits der AfD? Wofür engagieren sie sich, wogegen kämpfen sie? Wir haben verschiedene Bewegungen zwischen Erzgebirge und Lausitz besucht

[ZEIT Magazin, August 2019]

Demonstration für den Wald nahe Mühlrose, 28. April 2019

Protestspaziergänger nennen sich die rund 30 Menschen, die in Richtung des Dorfes Mühlrose ziehen. Sie demonstrieren für ihren Wald, gegen dessen Vielfalt der Hambacher Forst ein Klacks sei, wie sie finden. Hier wachsen Blaubeeren, wilder Wacholder, manche Bäume seien über 200 Jahre alt, sagt einer aus der Gruppe, während sie am »Liebespaar« vorbeizieht, einer Kiefer, die mit einer Eiche verschlungen ist. Bald sollen alle Bäume geschlagen werden, für den Tagebau.

Zwar plant die Bundesregierung den Braunkohle-Ausstieg bis 2038, doch bis dahin will der Lausitzer Tagebau-Betreiber Leag noch an die Vorräte, die unter Mühlrose liegen. Außer um Tiere und Pflanzen fürchten manche Aktivisten auch um ihren eigenen Lebensraum. Ihre Häuser sollen weichen. Am Ende des Zuges fahren die Älteren in Autos mit, darunter Detlef Hottas, vor 59 Jahren auf einem Vierseithof in Mühlrose geboren. Er erbte ihn von den Großeltern, denen er versprach, ihn zu bewirtschaften, solange er lebt. Vor den Hof rammte er ein Schild in den Boden: »Aus unserem Dorf wird jetzt – in letzter Sekunde – Kohle gemacht. Ein Verbrechen!« Seither rede sein bester Kumpel nicht mehr mit ihm. Der nämlich wolle fort.

Das Heidedorf ist zerstritten. In der Gruppe erzählt man sich, dass am geplanten Umsiedlungsstandort Neu-Mühlrose bereits der Wettbewerb um die besten Grundstücke begonnen habe, andere seien fortgezogen. Über Generationen gewachsene Nachbarschaften: kaputt. Die, die bleiben wollen, ärgern sich über Berichte, die den Eindruck erwecken, ganz Mühlrose wolle umsiedeln.

Ein anderer aus dem Zug gründete einst eine Bürgerinitiative mit, die gegen eine unfreiwillige Umsiedlung kämpfte. Trotzdem wird er seinen Hof jetzt aufgeben, den Entschädigungsvertrag unterschreiben. Er sei als Familienvater nun mal nicht allein auf der Welt, sagt er. In die Presse soll sein Name nicht. »Ich tauge zurzeit nicht als strahlender Held.«

Gründung eines sorbischen Parlaments, Schleife, 17. November 2018

Manche Gruppen, die sich von der Politik übersehen fühlen, gehen für ihr Anliegen auf die Straße. Andere gründen ihr eigenes Parlament. Im November 2018 schreitet im Sorbischen Kulturzentrum des Dorfes Schleife Martin Walde ans Pult: »Dies ist eine besondere Stunde – der Serbski Sejm tritt ins Leben.« Der Kulturwissenschaftler ist einer der Väter dieses politischen Experiments. Vielleicht, sagt er auf Sorbisch, werde es in den Geschichtsbüchern einmal heißen: »Kurz vor ihrem drohenden Untergang haben sich die Sorben und Wenden auf sich selbst besonnen.«

Immer weniger Menschen im Siedlungsgebiet der Sorben, der Lausitz, beherrschen die Sprache der slawischstämmigen Urbewohner oder fühlen sich der Volksgruppe zugehörig. Die bisherigen Institutionen und Minderheitenrechte genügten nicht, um diese Assimilation zu stoppen, sagen die Initiatoren des selbsterklärten Parlaments. Mit Ersparnissen und Spenden organisierten sie eine Briefwahl, luden zur Auszählung Wahlbeobachter aus dem Ausland ein. Zwar gaben weniger als 1000 der 60.000 Sorben und Wenden, die laut Schätzungen noch in Deutschland leben, ihre Stimme ab. Aber, so die Sejm-Aktivisten, auch die politischen Vertretungen anderer kleiner Völker in Europa – Samen, Ålander, Ungarndeutsche – hätten irgendwie angefangen.

Nun wollen die 24 Parlamentsabgeordneten kämpfen, gegen weitere Schließungen von Schulen im sorbischsprachigen Kerngebiet, für den Erhalt ihrer Dörfer und von ländlichen Traditionen und für neue Jobs in der Region. Darunter zwei Politiker (auf dem Foto oben links), eine Buchhalterin und die Rentnerin Edith Penk (mit Mikro), die sich auch gegen die Rodung bei Mühlrose engagiert. Vom Bund und von den Landesregierungen Sachsens und Brandenburgs fordern die Sorben mehr Geld und Befugnisse. Heimat, so sehen sie das, funktioniert am besten selbstorganisiert.

Wolfsmahnfeuer Radibor, 10. Mai 2019

In einer Dorfaktion bauten die Radiborer vor 16 Jahren ihre Holzbrücke. Sie führt auf eine Insel in einem Teich. Dort treffen sie sich zum Feiern: Polterabende, Erbsensuppe an Himmelfahrt, Abfischen im Herbst. An diesem Maiabend 2019 aber ist es der Wolf, der alle zusammenbringt. In einer Eisenschale flackert das Wolfsmahnfeuer, wie sie es nennen, das Symbol ihrer gemeinsamen Sorge. Inzwischen durchstreifen mehrere Rudel die Oberlausitz.

Vom Festland her klingen Glöckchen. Der Bürgermeister Vinzenz Baberschke hat sie seinen zehn Schafen um die Hälse gebunden. »Ich freue mich immer, wenn ich aufwache und es bimmeln höre. Dann sag ich: Wieder eine Nacht überstanden«, erzählt er, auf einer Bierbank sitzend. Hier gehöre Weidewirtschaft zum Dorfleben. Und die sei von Wölfen bedroht. Ein junger Mann in Fleecejacke aus dem nahen Ralbitz zeigt ein Handyfoto. Eines seiner Schafe, die Innereien und das ungeborene Lamm aus dem Bauch gerissen. Sein alter Vater habe an jenem Tag geweint.

Eine Frau am Feuer, Carola Tuschmo, fährt in ihrer Freizeit zu Betroffenen, hilft beim Ausfüllen der Entschädigungsanträge, spendet Trost. »Ich habe das selber erlebt, wie man alleingelassen wird«, sagt sie. Bei den amtlich eingesetzten Gutachtern komme das Menschliche oft zu kurz.

Ein Mann tritt aus der Dämmerung zur Runde, abgekämpft und in fleckigem Strickpullover. »Hallo, Schäfer«, wird er begrüßt, es ist der letzte Wanderschäfer der Gegend. Jetzt beginnt sein Feierabend. »Neunzehn Geburten heute.« Er lässt sein Bier ploppen und erzählt, in der neuen Ausgabe der Schafzucht sei zu lesen, 80 Prozent der Deutschen befürworteten den Wolf. Eine ältere Frau ärgert sich. »Die Menschen wollen den Wolf, aber auch das gute Biofleisch aus der Region. Sie wollen Artenvielfalt, aber die geht verloren, wenn keiner mehr die Weiden bewirtschaftet. Ich versteh diese Leute nicht.«

Sie berichten vom Hass, der ihnen im Internet von den Verfechtern der Wölfe entgegenschlage. Als »Wolfspegida« werden Schafhalter dort beschimpft. »Die schreiben, wir würden unsere Tiere nicht anständig schützen, wären unfähig, dumm und faul«, sagt der junge Mann aus Ralbitz.

Dass der Wolf ganz verschwindet, wolle aus der Runde keiner, versichern sie. Aber Rudel, die Herden angreifen, Dörfern und Menschen zu nahe kommen, müssten »entnommen« werden, bevor jemand eigenmächtig zur Flinte greife. Wie vorigen Sommer. Keine 30 Kilometer entfernt fand man in der Uferzone eines Sees einen Wolfskadaver, durchsiebt mit Schrot. Völlig krank seien solche Menschen, sagt der Bürgermeister. »Sie schaden unserer Gemeinschaft.«

Es ist eine Gemeinschaft, die schrumpft. Der Wanderschäfer hat niemanden, der seine Herde mal übernimmt. Der junge Ralbitzer wird die 110 Schafe seines Vaters verkaufen, ein letzter Sommer, dann ist Schluss. Er habe die Schäferei ohnehin nur im Nebenerwerb fortführen wollen, sagt er, arbeite längst als Pflegekraft in der Stadt.

Demonstration, Görlitz, 19. Januar 2018

Eine so große Menge hat sich seit dem Auftritt von Helmut Kohl im Jahr 1990 nicht mehr auf den Straßen von Görlitz versammelt: Im Januar 2018 demonstrieren 7000 Menschen gegen die geplante Schließung der Werke von Siemens und Bombardier. Sie zählen zu den größten Arbeitgebern der Stadt, weshalb Zeitungen in diesen Wintertagen vorrechnen, dass 25 Prozent Arbeitslosigkeit drohten. Die bundesweit niedrigste Kaufkraft hat der Kreis Görlitz bereits.

So schreiten an der Seite der Beschäftigten an diesem Tag nicht nur Gewerkschaftler – IG-Metaller, die Solidarnoœæ aus Polen -, sondern auch Menschen aus der Gegend. Zwei Schülerinnen der Oberschule Rauschwalde wollen zwar ihre Ausbildung in Dresden absolvieren, »aber ich mach das heute für die anderen«, sagt eine. Die »Linksjugend `solid Görlitz« entrollt ein Laken: »Arbeit nervt. Keine aber auch. Siemens bleibt offen.« Ein Malergeselle, noch in weißer Arbeitskluft, reiht sich mit Frau und Kind ein in den Zug. Auch das Rentnerpaar Piche aus dem Görlitzer Arbeiterviertel Weinhübel. Sie liefen mit für ihren jüngsten Sohn, erzählen sie, der sei Leiharbeiter im Bombardier-Werk. Ihre drei älteren Kinder lebten im Westen, »unseren Paule wollen wir unbedingt hierbehalten«.

Vor seinem Laden »Berliner Döner« sieht Mehmet Ates den vorbeiziehenden Fahnen zu. »Machen die Werke zu«, sagt er, »ist Görlitz eine tote Stadt.« Mitarbeiterinnen einer Bank stehen applaudierend vor der Tür. Der Weinhändler und das Buchgeschäft schließen für die nächste Stunde, damit ihre Mitarbeiter demonstrieren können. Unter Trommelschlägen erreicht der Protestzug eine Bühne. Einer hält ein Transparent: »Das Problem heißt Kapital.« Viele sehen den Kapitalismus als Wurzel von Spaltung und Vereinzelung. Die Görlitzer führt er an diesem Tag zusammen. Und beide Werke sollen nun übrigens erhalten bleiben.

Schlichtungsgespräch, Görlitz, 24. Januar 2019

Wenn die AfD Muslime besucht, hilft Humor beim Gesprächseinstieg. »Willkommen in unserer hochumstrittenen Einrichtung«, begrüßt Reda Errafi seine Gäste. Er ist Vorsitzender des Kulturvereins Assalam in Görlitz. Hochumstritten, denn: Den Gebetsraum betrieb zuvor ein Verein namens Sächsische Begegnungsstätte (SBS). Diese rechnet der Verfassungsschutz den Muslimbrüdern zu. Die Landesregierung bestätigte daraufhin dem AfD-Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel, dass es Hinweise auf eine personelle Verbindung zwischen SBS und Assalam gebe. Die AfD machte Stimmung auf Facebook und mit Flugblättern: »Keine Islamextremisten in Görlitz dulden!«

Der Verein lud Wippel ein. Der sagte zu. Die Assalam-Mitglieder staunten – und legten für einen Beamer zusammen. Als das Treffen schließlich stattfindet, im Januar 2019, zeigen sie Bilder von ihrer Exkursion zur Polizeidirektion, vom Fastenbrechen mit deutschen Gästen. Ihr Verein, so ihre Botschaft, setze sich für Integration ein, wolle mit der SBS nichts zu tun haben.

Die AfD-Männer wirken bald weniger skeptisch. Und wollen mehr wissen: Wie kommt der Imam zu den Inhalten seiner Predigt? Müssen muslimische Kinder in der Schule ihren Teppich ausrollen? Wippel sagt, im Netz würden Muslime diskutieren, ob der gute Muslim arbeiten gehen solle. Errafi arbeitet als Ingenieur, ein weiteres Assalam-Mitglied ist Produktionsleiter für eine französische Firma in Polen, wohnt lieber in Görlitz. Ein Dritter war in Syrien Arzt und macht gerade die Fachsprachenprüfung. Da klinkt sich Wippels Büroleiter ein. Er sitze im Görlitzer Kreistag im Gesundheits-Ausschuss, sagt er und fragt den Arzt, wie lange so eine Anerkennung dauere, bis er dann in Deutschland praktizieren dürfe. Er klingt ernsthaft interessiert.

In Görlitz fehlen Ärzte.

Marktplatz-Tour, Annaberg-Buchholz, 3. August 2019

Ein junger Mann parkt seinen Audi V8 an der Sparkasse, auf der Heckscheibe prangt in Frakturschrift »Sachsen – ewig treu«, vor dem Rathaus trudelt eine Hochzeitsgesellschaft ein. Es könnte ein gewöhnlicher Samstagmorgen in Annaberg-Buchholz sein. Aber es sind die letzten Wochen vor der Landtagswahl – und in der Erzgebirgsstadt macht das Bündnis #WannWennNichtJetzt Station, anders als die großstädtischen Unteilbar-Demonstrationen konzentriert es sich eher auf die Provinz. Mit Konzerten und Infoständen will das Bündnis Zeichen setzen. Stina Ochner, Mitte zwanzig, mit Funkgerät in der Hand, erzählt von den Anfängen. Letzten Sommer hätten sich mehrere Vereine zusammengetan, die sie als links, emanzipatorisch, antirassistisch beschreibt. »Unser Interesse war: Es muss was passieren im Osten.«

Es sind vorwiegend junge Menschen, die auf dem Marktplatz Tische rücken, Zwiebeln fürs vegane Gulasch schneiden, den Pavillon des »Feministischen Streikbündnisses« aufbauen. Viele studieren in Leipzig, Dresden, Berlin, aber die teilnehmenden Gruppen kommen auch aus den Dörfern und Kleinstädten der Umgebung.

»Wir wollen nicht die Leute aus der Stadt sein, die denen in der Peripherie erklären, was sie zu denken haben, wir wollen ins Gespräch kommen«, sagt ein Student am Stand von »Aufbruch Ost«, der die Umbrüche seit 1989 thematisiert.

Nach den ersten Terminen, die eher mäßig besucht waren, hätten sie nachgebessert, sagt Ochner. »Es gibt jetzt mehr niedrigschwellige Angebote«, sie nennt Tombola und Dosenwurf. Auf den Dosen kleben die Logos von Pegida, Hogesa, Frontex, AfD. Ein paar Familien bleiben stehen, damit die Kinder Seifenblasen fangen und sich Tiergesichter schminken lassen können. Ansonsten müssen die Aktivisten Passanten ansprechen, um ihre Flyer loszuwerden. An den meisten Annabergern gehe die Veranstaltung »relativ spurlos vorbei«, vermutet Martin Ullmann, Mitte dreißig. Er ist mit Procovita da, der Verein betreibt Gemeinschaftsgärten.

Wirksamer als politisch aufgeladene Aktionen sei es vielleicht, Flüchtlinge auf die Dorfkirmes mitzunehmen, um gegen Intoleranz vorzugehen, sagt Ullmann. Als er beim Einkaufen einen Kongolesen traf, grüßten sie sich herzlich. »Einen Afrikaner umarmen – das sorgt hier bei Passanten für Aufsehen.« Die Meinungsbildner seien die Dorf-Feuerwehr und der Fußballverein, an anderen Sichtweisen mangele es. »Das ist ja unser Problem: Die coolen Leute ziehen alle weg.«

Wie die Leute von der »Agenda Alternativ«, die sich einst in dem Städtchen Schwarzenberg gründete. Die meisten ihrer Mitglieder hätten ihre Heimat längst verlassen, ihren Verein führten sie aber weiter, um ein jährliches Festival zu organisieren und Jüngeren im Ort einen Anlaufpunkt zu bieten, erzählt Louisa Lippert, eine der Gründerinnen.

Doch sie und die anderen machen sich ernsthaft Sorgen, wie es weitergehen wird: »Falls wir bald von Schwarz-Blau regiert werden, wird es schwierig, noch Fördermittel zu erhalten.«