Besuch beim Rad Race in Berlin
[Bike Bild, November 2018]
Kartsportbahn Berlin-Hohenschönhausen, ein Samstag im März. In der Halle hängt nicht Benzingeruch, sondern Marihuananebel, aus den Boxen brüllen The Prodigy: „Smack My Bitch Up!“, wozu eine Frau in wildem Tanz ihre Muskeln lockert. Auch die anderen Starter machen sich bereit, entblößen Tätowierungen auf rasierten Waden, tauschen Holzfällerflanell gegen Lycra-Trikot, stülpen den Sturzhelm über die Rastamähne. Wie einen Crowdsurfer auf Punkkonzerten heben Zuschauer eine der Rennmaschinen über ihre Köpfe hinweg zur Startlinie. Endlich der ersehnte Ruf: „Kick it!“. Er läutet das erste Rennen des Rad Race ein.
Müsste man die Idee des Rad Race einem Filmboss pitchen: Fight Club auf Fahrrädern. Ein Künstler aus Tallinn, die Marketingfrau eines E-Bike-Herstellers und 160 weitere Großstadtmenschen mit Großstadtjobs ballen ihre Fäuste (um Lenkergriffe). Blut? Wird fließen.
QUALIFYING
Teuflische 180-Grad-Spitzkehren! Startnummer 107 beschleunigt in der Geraden zu stark und kriegt danach die Kurve nicht, Abflug in die Absperrbande. Wenig später erwischt es die 35: Schlüsselbein durch. An manchen Lenkern hängen Go-Pro-Kameras, Filmchen wie vom Rennrodeln im Eiskanal. Geschickte Fahrer driften mit blockiertem Hinterrad um die Kurven, dass die Zweieinhalb-Zentimeter-Pneus quietschen. Die Menge hinter den Reifenstapeln johlt. Einige haben sich mit hineingeschmuggeltem Jägermeister in Stimmung gebracht.
Das Format heißt „Last Man Standing“, pro Lauf acht Fahrer, alle zwei Runden scheidet der jeweils letzte aus, vier erreichen die nächsten Turnierrunde. Ein jähes Ende ereilt Bernhard Schulz aus Hamburg, der über dem Trikot eine Jeansweste mit Aufnähern trägt. Wie soll man auch mit zwei Metern Körpergröße und 100 Kilo Kampfgewicht die Kurven umschmeicheln, wie es die Italiener des Supernova-Teams so elegant vollbringen. „Die sind ja auch nur einsfünfzig groß“, sagt er. Der Türsteher haut ihn an: „Geile Kutte, Alter!“. Bernhard erzählt, dass er in ihr und auf dem Fixie von Nizza nach Barcelona, durch Thailand und Hawaii geradelt sei. Bleibt zu hoffen, dass er nicht streng jenem Kodex folgt, wonach eine wahre Kutte nie, aber auch nie zu waschen sei.
VIERTELFINALE
Der bärtige Typ, der abseits der Strecke die Bar schmeißt, und der Mann am Mikro, der das Renngeschehen kommentiert – das sind Taha Sonnenschein und Ingo Engelhardt, die Geschäftsführer der Firma, die das Rad Race organisiert. Ingo beschreibt den Gründungsmythos so: „Das war 2013, da haben wir uns gesagt: Radrennen, das sind Duelle Lenker an Lenker, Adrenalinrausch – warum werden die so verdammt uncool präsentiert?“. Er meint den Straßenradsport, wo die Zuschauer den halben Nachmittag mit ihren Klatschpappen am Absperrgitter lehnen, dann – wuscchhh – zischt das Feld in Sekunden vorbei. Ingo, Taha und zehn Freunde aus Studientagen opferten ihr Erspartes, um Events nach ihren Maßstäben hochzuziehen: Wie in einer antiken Arena sollte das Publikum das komplette Spektakel überblicken. Dazu DJ, Drinks und Party bis zum Morgengrauen. Das Konzept hat 1500 ziemlich hip aussehende Leute nach Hohenschönhausen gelockt, der Ortsteil ist sonst eher nicht für legendäre Samstagnächte bekannt.
Während die Teilnehmer der „Last-Man“-Premiere 2014 vorwiegend aus der deutschen Fixed-Szene stammten – „früher war es familiärer“, sagt einer dieser Veteranen, ein Kurierfahrer –, reisen inzwischen Teams aus halb Europa an. Vorjahressieger Addison Zawada jettete von Montreal rüber, dank BMX-Profijahren steuert er schlafwandlerisch durch den Parcours. Während die Kontrahenten in den Rennpausen auf den Trainingsrollen strampeln, lümmelt er lässig am Lüftungsschacht, hämmert wild auf sein Smartphone ein, vermutlich gilt es einen Highscore zu knacken. Klar, er wolle wieder gewinnen in Berlin. Sei aber noch müde vom Vorwochenende, ein 100-Meilen-Gravel-Rennen durch den Matsch von Oklahoma. Sein härtester Konkurrent heute? „Augusto Reati“, zweimaliger Champion. „Der ist einfach verdammt schnell.“
Kaum ausgesprochen, hallt Ingos Aufschrei über die Bahn: „Augusto ist raus!“. Neben einer Kunstpalme hängt der in der Werbebande. Schuld war das Bremsmanöver eines Vordermanns. Schäumend rappelt sich der Italiener auf, wirft sein Rad von sich, wie einst Bjarne Riis bei der Tour de France. Er dampft ab zur Sitzecke vor der Damentoilette, donnert seinen Helm gegen die Wand und streift die Träger seiner Radhose ab. So sitzt er da: Ein gestürzter Held in weißem Unterhemd.
HALBFINALE
Tamika Hingst wuchtet über die Bahn, verleibt sich eine Gegnerin nach der anderen ein. Auf dem Rücken ihres Renneinteilers prangt die Nummer 1. Die 19-jährige Hamburgerin gilt im Frauenrennen als Favoritin. Schon mit neun übte sie Rennrad auf dem Busparkplatz. Ein Kumpel aus dem Radverein überredete sie 2015, Fixed-Rennen zu probieren. Inzwischen fährt sie für das Rad-Race-Firmenteam, Erlebnisse bei Kriterien von Brooklyn, London und Barcelona füttern ihren Instagram-Account. Ist was anderes als Juniorenrennen durch plattdeutsche Landschaften.
Dank des Glamours, der die junge Szene des Fixed-Gear-Racing umweht, ziehen auch Ingo und seine Leute immer mehr Sponsoren an, ein deutscher Radhersteller spendiert dem Firmenteam feuerrote Fixies, aus einem Kartbahnkreisel ragt die Dreimeterflasche eines Haarwaschmittels. Auch Rad Race selbst wird zur Marke: Als sie voriges Jahr mit der Mehretappenfahrt „Tour de Friends“ als Reiseveranstalter debütierten, nahmen 400 Leute teil. Jeder zahlte 589 Euro. „Damit lässt sich endlich Geld verdienen“, sagt Ingo. Die Rennen hingegen seien kein Gewinngeschäft, weshalb er werktags für eine Werbeagentur malocht und in der Halle an die Zuschauer appelliert: „Jedes Bier, das ihr kauft, kommt einem guten Zweck zu Gute. Nämlich uns.“
FINALE
Die Strecke schimmert in goldenem Licht, ein Spotlight fährt über die Finalfahrräder, lässt sie wie Schwarten am Fleischerhaken glänzen. Zuschauer stehen in Reifenstapeln, möglichst nah am Geschehen. Addison hechtet nach vorn, nimmt eingangs der letzten Runde plötzlich die rechte Hand vom Lenker, worauf er leicht ins Schlingern und aus der Ideallinie gerät. Meter vor dem Ziel schlüpft sein Verfolger vorbei: Mattia Zoli, Landsmann und Teamkollege von Augusto, dessen tragisches Scheitern somit gerächt sein dürfte. Addison gratuliert artig. Dem Reporter erklärt er, mit der Handbewegung habe er das Publikum animieren wollen und dabei den Fokus aufs Rennen verloren, „stupid stuff“, lautet die selbstkritische Analyse. So straucheln auch die versiertesten Fahrer über die Frage, ob das Rad Race eher Show oder ernster Wettstreit sei.
Bei den Frauen stürzt die Französin Margaux Vigié, die im Turnier Rundenzeiten wie die schnellsten Männer erzielte, in einer Kurve, schneidet Tamika von allen Siegchancen ab. Die dann Führende schweift zu weit aus, eine Lücke geht auf, aus dem Hintergrund schießt Karla Sommer – und gibt ihren Spitzenplatz nicht mehr her. Als Mutter mit Vollzeitjob könne sie zwar nur zweimal die Woche trainieren, sagt sie, „ich fahre aber seit 25 Jahren, kann Rennsituationen lesen.“ In der Traube der Gratulanten steckt auch Bernhard, der Kuttenmann. „Du Maschine!“, brüllt er Karla ins Ohr und wirkt schon ziemlich bierselig. Die erste Regel des Fight Club auf Fahrrädern lautet: Die Letzten im Rennen sind die Ersten an der Bar.