Unter den Heimbewohnern haben sich die neuen Altenpflegerinnen schnell beliebt gemacht. Fragt sich bloß: Wer pflegt jetzt ihre eigenen Großeltern auf den Philippinen?
[Chrismon, März 2018]
Heinz Lochmann, 84, spricht jetzt Tagalog. „Isa“, eins, bis „dala . . . dalawangput!“, zwanzig. Das brachten ihm die neuen Pfleger bei, „von den philippinischen Inseln“.
Und Klarissa zählt jetzt oft auf Deutsch. Immer bis drei. Sie umklammert Bewohner am Hosenbund, „eins“, „zwei“, hievt sie bei „drei“ aus dem Rollstuhl ins Bett.
Aus San Isidro, Nueva Ecija, nach Meißen, Sachsen. In die Einrichtung Pro Civitate, vor deren Fenstern die Triebisch rauscht. Eine Reise ins Ungewisse, nie zuvor hatte Klarissa Eser Castillo ein Pflegeheim betreten. Pflegeheime gibt es keine auf den Philippinen. „Die Familie hat die Pflicht, für ihre älteren Mitglieder zu sorgen“, sagt Artikel 15 der Staatsverfassung, neun von zehn Senioren leben bei Verwandten.
Im Heim in Meißen verteilen sich 85 Betten auf vier Etagen. Lange Gänge, Sitzinseln zum Verschnaufen, Lektüre liegt aus, „Heimatglocken. In großer Schrift“. Die Glastüren ins Treppenhaus sind mit Blumen bemalt, damit sie als Barriere wirken für „Bewohner mit Weglauftendenz“. Neuerdings heißt es „Hinlauftendenz“, lernte Klarissa. Der Vortrag hieß „Freiheitsentziehende Maßnahmen“, ein richtig deutsches Wort, hatte der Dozent gesagt, vermutlich gebe es auf den Philippinen keine Entsprechung dafür.
An diesem Montag im Mai 2017 hat Klarissa Frühdienst. Wie gestern und vorgestern schon. Seit sechs Monaten ist sie hier. Die Erlebnisse jedes Tages hält sie fest. Muss sie festhalten: „Grundpflege wurde durchgeführt. Haare im Bett gewaschen, in Form geföhnt. Hautbild altersgerecht. Ganzkörper mit Lotion versorgt. Nagel-, Nabel- und Ohrenpflege durchgeführt. BW – Bewohnerin – äußerte Wohlbefinden.“ Ja, die Dokumentation. Das sei oft mehr Arbeit als alles andere. Sagen selbst die deutschen Kolleginnen. Die blättern beim Tippen nicht ständig im Vokabelbüchlein: „geführt“ mit u oder ü?
Von ihrer Kollegin Katrin wurde Klarissa am Morgen als „Patricia“ begrüßt, „ich verwechsle euch dauernd“. Asiatische Mitarbeiter gab es in dem Heim zuvor nicht, nun sind es gleich sechs. Klarissa, Patricia, Carlo, Hanika, Mariane, Bernadine. Allesamt Mitte zwanzig, schmächtig und kaum über 1,60 Meter groß. Arbeitskleidung wird nicht gestellt, doch gleicht sich, was sie tragen: Unifarbene Schlupfkasacks, die sind sie aus ihren früheren Jobs gewohnt. Auf den Philippinen arbeiteten sie in Krankenhäusern.
Klarissa, aus einer Familie von Reisfarmern, noch nie weit weg von zu Hause, gaben die Großeltern mit: Behandle die Alten dort, wie du uns behandelt hast. In San Isidro wohnten sie nebenan. Klarissa kochte für sie, half im Bad, beim Spazieren, „mit ganzem Herzen“. Bevor sie in Manila den Flieger nach Frankfurt nahm, feierten Großvater und sie noch Geburtstag. Wie jedes Jahr bislang, beide haben am 20. November, sie wurde 24, er 92. Sie wolle um Urlaub bitten für November, sagt sie jetzt, ein halbes Jahr vorher. Nach Hause fliegen.
Von den 100 Millionen Philippinern arbeiten sechs Millionen im Ausland, schätzt die Weltbank. In Haushalten der Golfstaaten, auf den Schiffen der Weltmeere. Nun werden sie für die deutsche Altenpflege entdeckt. Die geburtenstarken Jahrgänge rücken unaufhaltsam Richtung Pflegebedürftigkeit, gleichzeitig pflegen immer weniger Menschen ihre Angehörigen, und viele Heime können schon heute ihre Lehrstellen nicht besetzen. Für das Jahr 2030 rechnet der Pflegereport der Barmer Ersatzkasse mit 350 000 fehlenden Altenpflegern. Bund, Länder und Verbände beschlossen 2013 eine „qualifizierte Zuwanderung aus Drittstaaten“. Eines der Rekrutierungsprojekte heißt Triple Win, da neben Deutschland auch die Fachkräfte (sicherer Job, mehr Verdienst) und das Herkunftsland (Heimatüberweisungen, weniger Jugendarbeitslosigkeit) profitierten.
Wenn drei gewinnen, verliert dann keiner?
Klarissa wuchtet eine Frau im Rollstuhl über die Terrassenkante. Ein duftender „Garten der Sinne“, aus Hochbeeten klettern Zuckererbsen, Bewohner pflanzten sie, wie sagt der Heimleiter: „Steckt die Finger in die Erde, das erdet.“ Solche Beschäftigungsangebote sind Sache der Ergotherapie, nicht der Pfleger.
Es ist bald zwölf, der erste Bewohner, „Mahlzeit!“, tippelt in den Speisesaal, Klarissa muss noch Äpfel schälen und Getränke vorbereiten, vier Schnabelbecher auf einmal trägt sie zu den Tischen. Den Rat der Großeltern zu beherzigen, gelingt nur nebenbei: Einer Frau streichelt sie beim Füttern sacht den Rücken. Mit einem Herrn, dem sie die heutige Beilage auf den Teller schöpft, Blaukraut, landet sie bei Zungenbrechern. Sie kennt nur englische: „Peter Piper picked a peck of pickled peppers“, worauf er bloß „picobello?“ versteht. Da müssen beide lachen.
Zur Mittagsruh’ Kissen in Form klopfen, den Wecker parallel zum gerahmten Bild des Enkels rücken, so hat es Frau Burjahn* gern. Laken wechseln, Handtücher auffüllen, Treppenläufe vom Staub befreien – zählt alles zum Job der Philippiner. Dabei musste zuvor mancher nicht mal das eigene Bett machen. Vermutet zumindest ihr Chef. Weil alle noch bei den Eltern wohnten.
Er nennt sie „meine Sechse“, Steffen Kummerlöw, der Heimleiter. Fast jede Woche ruft er sie ins Büro, fragt nach Problemen. In einer ihrer zwei WGs muckt das WLAN. Anruf beim Hausmeister: „Frank, mein Guter, was macht das Internet? Die Mädels stehen bei mir im Büro und weinen, weil sie nicht mit ihrer Mutti telefonieren können.“
Kaum hat er aufgelegt, klingelt sein Telefon, ständig geht das so. Eine Frau fragt nach einem Heimplatz für ihre Mutter. „Wenn Sie noch nicht auf der Warteliste sind: fast aussichtslos.“ An einem Tag führte er mal Strichliste, da gingen 18 solcher Anrufe ein. Es gebe im Umkreis Heime, die könnten nur einen ihrer Wohnbereiche öffnen, weil schlicht Personal fehle. Der Markt sei leergefegt. „Das läuft auf einen Kollaps zu.“
Herr Kummerlöw ist aber keiner, der aufsteckt. In der örtlichen Selbsthilfegruppe Demenz e. V. klärt er Angehörige darüber auf, dass nicht jeder Erkrankte automatisch ins Heim gehört. Schulklassen lädt er ein, will Berührungsängste vor dem Alter nehmen – und für den Beruf werben. Sechs Auszubildende hat er aktuell, allerdings gab es Jahre, sagt er, da habe keiner den Abschluss geschafft. „Zu viele Fehltage, schwanger geworden, keinen Bock mehr gehabt.“
Dann besiegelte sein Träger den Deal mit C&C, einem Bochumer Start-up, das auf den Philippinen studierte Pfleger anwirbt und nach einem Sprachkurs an deutsche Heime vermittelt. Pro Civitate war der erste Kunde, 18 Philippiner für drei Heime in Sachsen, das war 2016. Kummerlöw sah sich schnell bestätigt. „Wir gelernten DDR-Bürger wissen das: Asiaten sind die perfekten Dienstleister.“ Man denke an die Vietnamesen, wie die nach der Wende ihre Gemüsestände aufmachten. Auch seien seine Philippiner ja Katholiken, „die gehen mit einer Nächstenliebe durch die Gänge, da biste baff“. Das sucht er hier. „Wir haben es mit lethargischen Menschen zu tun. Da brauche ich nicht noch lethargische Mitarbeiter.“
Dreizehn Jahre hat er selbst „am Bett gearbeitet“, auch als Chef trägt er gern Sandalen und Sprüche-T-Shirts („Ich bin nicht alt, ich bin ein Klassiker“), bleibt hemdsärmelig. Seine Hausrunden – ein großes Hallo, er schüttelt viele faltige Hände: „Hans“, „Herr Dr.“, „Guten Tag, meine Liebe“, „Günther!“, „Herr Hofmann, heute ohne Brille? Im Zimmer vergessen?“.
Er informierte im Vorfeld alle, „dass wir hier mit Ausländern bestückt werden“, wie es eine Bewohnerin ausdrückt. Auch die Angehörigen. Sollte nicht das Gerücht keimen, man beute Billigkräfte aus: Gleicher Lohn, der Heimbetreiber zahle Flug und Qualifizierung. „Die Philippiner sind ganz emsig, man versteht die richtig super“, sagt Birgit Weig auf dem Heimparkplatz. Die 54-Jährige bringt ihre Mutter vom Friseur, muss gleich weiter, sie ist Krankenschwester auf einer Intensivstation. Auch dort sei die Personaldecke dünn. „Die Heime sind noch schlechter dran. Das liegt an der Bezahlung.“ Im Osten erhalten Vollzeit-Altenpfleger im Schnitt unter 2000 Euro brutto. „Für jemanden aus dem Ausland wird das viel Geld sein. Für uns ist das ein Hungerlohn.“ So oft sie könne, sagt sie, komme sie her, um die Pfleger zu unterstützen, die Mutter zu duschen. „Ich habe noch immer ein schlechtes Gewissen, dass sie nun hier ist. Aber anders schaff ich es einfach nicht.“
Wochen später in Dresden, Deutsche Angestellten-Akademie. Aus den Boxen ein Refrain: „Ang dami ng isla / It’s more fun in the Philippines“, der Beamer wirft Bohol Islands Strände und den Vulkan Pinatubo an die Raufaser des Klassenraums. An drei Tagen pro Woche holen die 18 Philippiner hier Inhalte aus der Altenpflegelehre nach, obwohl sie einen Bachelor-Abschluss in Science in Nursing und erste Berufsjahre absolviert haben. Heute sind die Tische zusammengeschoben, lange Bahnen Frischhaltefolie, bedeckt mit Bananenblättern. Darauf drapieren sie Reis, hergeschleppt in riesigen Töpfen, außerdem Pak Choi und eingelegte Auberginen, kross gebrutzelte Sardinen und Pancit, ein Glasnudelgericht. An den Rand ein paar Kleckser Shrimppaste, „five minutes, guys!“. Klarissa schält Mangos, zu Hause seien sie zwar auch außen gelb, sagt sie, nicht grün und rot wie hier, aber ihre Nationalfrucht gehöre nun mal auf den Tisch beim Boodle Fight. Ihr Lehrer Frank Roth kommt rein. „Sieht so genial aus“, ruft er.
Der Tag war seine Idee. Im Unterricht hatten sie ihm von der Boodle-Tradition erzählt: Ein Dorf an einem Tisch, essen mit den Fingern, alle sind gleich. Fand er gut. Roth lehrt Sozialkunde und fuhr mit ihnen nach Pirna-Sonnenstein, einst NS-Tötungsanstalt. Zur deutschen Geschichte sei ihnen anfangs nur Hitler eingefallen. „Sie sind aber unglaublich wissbegierig“, sagt Roth. Es sei ein ganz anderes Unterrichten als in den deutschen Klassen. „Mancher kommt hierher mit seinem Bildungsgutschein, und man weiß gar nicht: Warum will der jetzt Altenpfleger werden?“ Erzählten hingegen die Philippiner von ihrer Arbeit, sei da ein Strahlen. „Die sagen mit Bedauern: Wir haben so wenig Zeit für die Leute.“ Ein Engagement! „Ich kann mir vorstellen, dass sie für manche deutschen Altenpfleger eine Provokation darstellen.“ Dreißigtausend weitere, hat er mal gesagt, würde er sich wünschen. „Wobei sie in ihrem Land wohl fehlen würden.“
Tatsächlich bildet der asiatische Staat weit mehr Pfleger aus, als er benötigt. Weshalb ein UN-Bericht die Pflegekooperation zwischen Deutschland und den Philippinen als Best Practice lobt, auch entspricht sie dem Global Code der WHO, einem Verhaltenskodex zum Anwerben medizinischer Fachkräfte – was wiederum das staatliche Triple-Win-Projekt und private Anbieter wie C&C als ethische Legitimation ihres Geschäfts verstehen.
Kritik kommt von Gewerkschaften und Sozialverbänden, sie schreiben auf ihrer Plattform für Globale Gesundheit, der Pflegeberuf sei inzwischen so unattraktiv, „dass Bundesregierung und ArbeitgeberInnen auf dem Weltmarkt nach Arbeitskräften suchen, die bereit sind, unter den hierzulande immer schlechteren Einkommens- und Arbeitsbedingungen in der Pflege tätig zu werden“. Stefan Sell, Sozialpolitikexperte und Professor in Koblenz, sieht eine „weitere Abwertung des Berufsbildes“. Seit Jahren fordert er von der Politik, es durch höhere Gehälter zu stärken, Beschäftigten rät er, sich zu organisieren. Die neuen Kollegen kennen nicht immer umfänglich ihre Rechte, sind aus ihren Heimatländern ganz andere Löhne und Wochenstunden gewohnt und wollen vielleicht nur einige Jahre in Deutschland bleiben. Können sie schlagkräftige Mitstreiter im zähen Kampf für bessere Arbeitsbedingungen sein?
Noch eine Fliege vom Reis wedeln, Fotos für die Familien und rasche Umarmungen, dann schlägt der Gong des Boodle Fight. Klarissa, nun in rotem Kleid und Bolero, bildet mit Carlo, der ein Barong Tagalog aus Ananasfasern trägt, ein Begrüßungsspalier. Ihr Deutschlehrer tritt ein, Klarissa führt seine rechte Hand an ihre Stirn, „mano po“, ein Ritual, Älteren Respekt zu erweisen. „Und das ist ein vietnamesisches Fest, oder was?“, fragt ein Tätowierter aus der Klasse angehender Erzieher. Bestimmt sechzig Menschen stehen nun um die Tafel, was man traditionell dazu trinke, fragt einer, andere wirken eher zögerlich, „ich muss noch mit dem Zug fahren, will nicht wie Schwein aussehen“. Nach zwanzig Minuten sagt einer: „Ich geh ma’ ene roochen.“ Die Reihen ums Bankett lichten sich, Grüppchen abseits rechnen sich ihren Notenschnitt vor, ein paar Frauen tauschen sich darüber aus, welches ihrer Kinder noch gewindelt wird.
Eine halbe Stunde später sind die Philippiner wieder unter sich. Die üppigen Reste wickeln sie mitsamt den Bananenblättern vom Tisch, wie eine große Sushi-Rolle wirkt das, was sie in den Müllsack stopfen. In der Spendenvase landeten nur wenige Scheine und Münzen, nie 250 Euro, die Lehrer Roth aus eigener Tasche vorgestreckt hatte. Der saugt die letzten Reiskörner vom Boden. Der Beamer läuft weiter in Endlosschleife. It’s more fun in the Philippines.
Später, in ihrer WG auf das Fest angesprochen, wollen Klarissa, Patricia und Hanika nicht enttäuscht wirken. In Deutschland esse man schnell. Das wüssten sie inzwischen. Aber es sei manchmal „tiring“, sagt Patricia, „wir sind sechs Philippiner und machen alles zusammen: Arbeit, Schule, Freizeit“. Viele Kolleginnen seien älter, hätten Familie, wenig Zeit. „Hier gehen wir nach dem Feierabend direkt nach Hause“, sagt Klarissa. Mal um die Häuser, nun ja: „Das Nightlife von Meißen sind wir.“ Sie besuchen das Fitnessstudio neben Kaufland, das schon, aber weniger zum Kontakteknüpfen, sondern um den Rücken zu kräftigen für die Arbeit im Heim.
Dort geht es ja vielen Bewohnern so: neue Umgebung, sich einrichten müssen, sich fremd und einsam fühlen. Manche, erzählt eine Mitarbeiterin der Ergotherapie, hätten zwar Familie in der Gegend, aber keiner besuche sie. Riefen sie ihre Kinder an, hebe nie jemand ab.
Frau Wießner blieb kinderlos. Weil sich ihr Verlobter kurz vor der Hochzeit als „Bibelforscher entpuppte“, wie sie erzählt. Ihren Neunzigsten musste sie trotzdem nicht allein feiern. Herr Kummerlöw hatte einen Besuch der „Manu“ organisiert, der Meißner Porzellanmanufaktur, wo ihr Vater einst Blumenmaler gelernt hatte. Fotos vom Tag zeigen die alte Dame mit rosigen Wangen. Zum Männertag lud Herr Kummerlöw seine Hutträger in den Bus, auf in die Panzerausstellung, es gab Bier aus Flaschen und Kriegsanekdoten, einer erhob sich vom Rollstuhl, versuchte, im Stehen zu pinkeln wie einst. Das Sommerfest – Motto: Tag am Strand – zogen sie durch trotz Dauerregens, „wir haben noch nie eins abgesagt“. Altenpflege dürfe keine Industrie werden, sagt Herr Kummerlöw. Er will mehr bieten als das Warten auf die nächste Betreuungsmaßnahme. Seine „Sechse“ sieht er als Verbündete: Zum Sommerfest ließ er Sand herankarren, sie formten daraus eine spektakuläre Burg.
Bei jenem Fest sah Klarissa einige Bewohner weinen. Sie fühlten sich an Urlaube mit der Familie erinnert, fand sie heraus. Auch nach fast einem Jahr Deutschland versteht sie eine Sache nicht: warum Menschen, die im Leben viel entbehrten zugunsten ihrer Kinder, nun auf ihren Zimmern sitzen, alle paar Wochen ein kurzer Besuch. „That’s the sad part of it“, sagt sie. Wenn ihr etwas nahegeht, wechselt sie ins Englische.
Von einer „Kultur der unglaublich innigen Familienbande“ spricht der Sozialwissenschaftler Niklas Reese, der in Manila lebt und zur Gesellschaft der Philippinen forscht. Der Westen möge Konsum und Sexualmoral beeinflusst haben, die Kultur des Zurückzahlens aber, „Utang na Loob“, bleibe eine starke Norm. „Würde jemand seine Eltern in ein Altenheim abschieben, wäre das sein sozialer Tod.“ Dass massenhaft junge Leute zum Arbeiten auswandern, sei kein Widerspruch – im Gegenteil: Wegen fehlender Sozialsysteme reichten die Renten „hinten und vorne nicht“, sagt er. „Daher erwartet man von den ausgewanderten Kindern, dass sie genug Geld zurückschicken.“ Eine Haushaltshilfe für die Verwandten koste keine 100 Euro.
„Natürlich. Ich werde bleiben“, sagt Klarissa über Deutschland und ihren Job. Ihre Begründung: „Utang na Loob.“ Trotz harter Schichten, der noch immer nicht bestandenen Deutschprüfung und des Wissens, dass ihre Freunde in den USA deutlich mehr verdienen. Dankbar sei sie für die Chance hier. Und für das Vertrauen der Bewohner. Wenn sie nach freien Tagen wieder im Heim erscheint, sagen die ihr – vielleicht, um ihr zu schmeicheln –, ohne sie habe Chaos geherrscht. Doch gebe es etwas, sagt sie, das setze sie in letzter Zeit sehr unter Druck. Der Gedanke an die Großeltern. „Ich kann nicht für sie da sein, fühle mich als älteste Enkelin aber verpflichtet dazu.“
Vielleicht verstehen nicht nur Kenner der philippinischen Kultur diese Zerrissenheit. Frau Weig vom Parkplatz, andere Töchter und Söhne, viele leben mit ihr. Auch im Unterricht kam diese Zerrissenheit vor: Lehrer Roth, sonst kein Freund von pädagogischen Spielen, legte jedem zwei bunte Zettel vor. Sie sollten notieren: Altwerden in Deutschland, was dafür und dagegen spricht. Die Antworten hat er aufgehoben.
Dafür: „Weil ich hier in Deutschland versichert bin“, „Die medizinischen Maßnahmen sind besser“, „Alte Frauen leben über 90“. Dagegen: „Meine liebende Familie ist nicht hier in Deutschland, und wenn es möglich ist, möchte ich nicht in einem Altenheim wohnen“, „Wenn ich in Philippinen im Ruhestand bleiben werde, werde ich sehr fröhlich, weil meine Familie dabei ist“, „Ich würde allein sterben“.
Nachdem es lange nicht gut aussah, wurde Klarissas Urlaub doch noch bewilligt. Am 19. November landete sie in Manila. Ein Reisekoffer allein für Mitbringsel, Dresdner Christstollen, Kleidung für alle. Solche „Pasalubong“, sagte sie vor dem Flug, würden erwartet von den O-F-W, Overseas Filipino Workers. Das ist sie jetzt. Eine, die aus Übersee vorbeischaut.