Bitter bei die Fische

Erst kam der Kormoran. Dann der Otter. Da waren die Fischer am Schaalsee noch stolz auf ihr reiches Naturschutzgebiet. Inzwischen kämpfen sie um ihre Existenz

[DIE ZEIT, August 2017]

– Prämiert mit dem Preis „Grüne Reportage 2018“ (Kategorie Nachwuchs) –

Seiner Frau erzählt er nichts. Der Sohn sagt: Vadders, tu dir das nicht an. Michael Bothstede aber fährt. Jede Woche. Zweige knallen an die Frontscheibe, Wildschweine haben im Weg gewühlt, die Autoreifen springen über Wurzeln, Steine, Kuhlen vom Regen. Ein holpriger Pfad in die Vergangenheit. Bis voriges Jahr hat er die Waldzufahrt zu den Teichen gepflegt, nahm Kunden mit raus, Kitas kamen zum Karpfen gucken. Vorbei. Die Fische sind fort.

Ein Fischwirtschaftsmeister und seine 44 Teiche, am Rande von Grambek, Schleswig-Holstein. Pächter seit exakt dreißig Jahren. Winters Teichböden umgraben, im Frühjahr in die Wathose steigen, Schilfschnitt, Wasserproben, Jungfische päppeln. Abfischen im Herbst.

Nun kommt er her, raucht unentwegt Selbstgedrehte, reibt die Bartstoppeln, dass es wie Schmirgelpapier klingt – und sieht dem Gras beim Wachsen zu. Auf den Dämmen, am Grund der trockenen Fischgruben, überall wuchert wildes Grün. In der Verkaufsbude hat der Waschbär gewütet. Hinter einer Brennnesselhecke rostet der Schneidbalken des Mähboots. Bothstede blickt auf den Grund eines Teichs. Wäre da noch Wasser, spiegelten sich die Züge eines tief Enttäuschten.

„Wir wurden plattgemacht“, sagt er. Vom Otter. Und vom Kormoran, der den verbliebenen Erwerbszweig, die Binnenfischerei, bedroht. Der Familienrat tagte: Steigen bis Jahresende die Einnahmen nicht, schließt die Fischerei „ut Grambek“.

Der Betrieb liegt am Schaalsee, vor der Wende geteilt, seither geschütztes Paradies: Um das Westufer, in Schleswig-Holstein, erstreckt sich der Naturpark Lauenburgische Seen. Die andere Seite gehört zu Mecklenburg-Vorpommern, ist Unesco-Biosphärenreservat. Wer durch die Landschaft streift, hört neben Grünfrosch und Klappergrasmücke auch Rufe des Protests: Gegen rigiden Umweltschutz, der nicht nur schuld sei an den „schwarzen Buchten“, der Kormoranplage, sondern auch Bauern und Eigentümer beschneide. Sie sprechen von „kalter Enteignung“.

Michael Bothstede, 58, will nur seinen Beruf zurück. Bei ihm durfte Uferreet fünf Meter breit stehen, Libellen schwirrten darin. Statt Dünger kaufte er Pommerngänse, ihr Kot ließ Plankton blühen, das die Fische ernährte. Jungfische futterten Schrot vom Biohof. Auf einen Teichhektar kamen höchstens 600 Fische, in konventionellen Teichen drängeln sich fünfmal so viele. So wurde er Norddeutschlands erster Öko-Teichwirt. Tierschutzvereine ehrten ihn, Delegationen aus der Schweiz und Nordkorea hospitierten, 2012 übergab Bundesagrarministerin Ilse Aigner in Berlin Blumen und Urkunde, „für herausragende Leistungen im Bereich der ökologischen Fischzucht“.

Als würden Kormorane Zeitung lesen, hockten im folgenden Sommer mehr denn je an den Teichen. 2013 siedelte sich eine Otterfamilie an. Bothstede zog Zäune, spannte Netze, vom „größten Netzsystem in ganz Deutschland gegen Fischräuber“ schrieben die Zeitungen. Unmöglich aber, alles einzuzäunen: 17 Uferkilometer, 100 Euro Kosten je laufenden Meter. Ohnehin waren die geschmeidigen Otter durch die Maschen geschlüpft.

In Spitzenjahren holte er mehr als zwölf Tonnen Fisch aus den Teichen. 2016 waren es noch 100 Kilogramm. 1500 Euro Umsatz. Den Zaun will er abbauen, als Altmetall verkaufen. „Die Teichwirtschaft ist gecancelt, wir wickeln alles ab. Nicht, weil wir zu blöd sind. Weil es Tiere gibt, die von uns gehätschelt und getätschelt werden.“

Nach der Auszeichnung seien sie die Helden gewesen, im Postfach 1000 Mails, „jetzt haben wir ein Problem und die Leute interessieren sich einen Scheißdreck.“ Er schrieb Politikern, ohne Effekt. Der Naturschutz stünde inzwischen über allem. „Keiner traut sich, sich mit der mächtigen Ökoklientel anzulegen.“ Vergessen wir im Eifer, unsere Wälder, Wiesen und Gewässer zu bewahren, die Menschen? Die in Zeiten schwellender Städte weiter den ländlichen Raum bereichern. Alte Berufe fortführen. Überfischten Meeren und asiatischen Aquakulturen heimischen Fisch entgegenstrecken. Gehört einer wie Bothstede selbst zu einer schützenswerten Art?

Um den Schaalsee mit Thomas Neumann. Falls es stimmt, dass der Naturschutz an Macht gewinnt, müsste der 70-Jährige, Naturschutzbeaufragter des Kreises Lauenburg und einer der ersten deutschen Mitarbeiter des World Wildlife Fund (WWF), sich wie ein Fürst fühlen. Seine Kutsche ist ein gebrauchter Suzuki Jimny, ansonsten erinnert Neumann tatsächlich an einen, der sich an seinen Ländereien berauscht. Im Tal ein Wald, „der gehört uns“, ruft er, „sonst wäre der nicht so schön und dicht.“ Vorbei an einem umgewidmeten Weizenacker, nun voller Dornbüsche, „Wildrosen!, wie in der Provence“. Am Mechower See zückt er sein Fernglas: Gänse mit Jungen, eine Krickente taucht ab, „hier ist immer was los“. Im Wald bei Ziethen hoppelt ein Hase vors Auto. Nach Landesjagdgesetz darf man Hasen jagen, im geschützten Schaalseegebiet nicht. „Bei uns ist der Jäger nur Gehilfe für den Naturschutz“, sagt Neumann.

Am Nordufer zeigt er dem Reporter, wo die innerdeutsche Grenze durch den Schaalsee verlief. Ein Rentnerpaar schnappt im Vorbeiwandern die Wörter „Suchscheinwerfer“, „Stacheldraht“ auf. Neugierig fragen sie Neumann, ob er aus der Gegend stamme. Der zieht einen Faltplan aus dem Kofferraum, „Schaalsee-Landschaft. Naturschutzgroßprojekt“, breitet ihn aus: „Das ist sozusagen mein Lebensprojekt“.

Im Schatten der DDR-Grenztürme blieben Wasser und Ufer unberührt. Am Todesstreifen blühte Leben. 1985 erwarb der WWF, Neumann nutzte den Kleinen Grenzverkehr, erste Flächen im Osten. Zur Wende dann ein Wettlauf gegen dunkle Limousinen: Investoren könnten – wie ein Platzsturm nach dem Pokalsieg für ein Stück Stadionrasen – die Seegrundstücke unter sich aufteilen. Villen und Marinas; surfende Großstädter statt segelnde Greifvögel, so die Dystopie.

Die Hüter siegten. WWF und Landkreise schufen 1991 den „Zweckverband Schaalsee-Landschaft“. Gefördert von Bund und beiden Ländern kaufte er für mehr als 27 Millionen Euro 4.600 Hektar Land. Bewahrte Natur, die sich entfaltet: Die Zahl der Kraniche hat sich seit 1990 verdoppelt, die der Seeadlerpaare verdreifacht. Durch Jagd, verunreinigtes Wasser und Kanalbau galt der Fischotter in Deutschland als nahezu ausgestorben, dank renaturierter Gewässerläufe „haben wir den am Schaalsee wieder flächendeckend“, sagt Neumann. Ein Triumph – auf Kosten anderer?

Eine rot getünchte Scheune an Grambeks Dorfstraße. Fischer Bothstede spießt silberne Fische auf, zum Räuchern, drei Stunden über Erlenholz. Sohn Jan brachte einen Eimer Kleine Maränen aus dem Schaalsee. Als der Junge 2012 von der Bundeswehrkaserne in den väterlichen Betrieb wechselte, erwarben sie dort Fischrechte: Das ganze Jahr Fisch anbieten und genug für zwei verdienen. Damals klang der Plan ganz gut.

Mit dem Ende der Teichzucht – und des Biosiegels – seien achtzig Prozent Kundschaft weggebrochen, sagt der Senior. „Die kamen zu uns aus Hamburg, Bremen.“ Um nicht alle zu vergraulen, kauft er zu: Barsche aus Bayern, dänische Forellen. Tiefkühlware. Nicht bio. „Ist doch nicht richtig“, klagt er.

Auf einer leeren Fischvitrine ein schwarz gerahmtes Bild: Ein Karpfen, zerfetzt bis auf die Gräten, Otters Werk. Vater und Sohn arbeiteten zusammen an den Teichen, als sie den ersten erspähten. „Ich rief noch, juhu, wir haben einen Otter!“, sagt Michael Bothstede. „Der sollte in unsere Werbung: Auch Otter mögen Grambeker Fisch.“ Die alten Fischer aber gaben ihm noch drei Jahre. Als junge Männer hatten sie Otter mit der Flinte gejagt.

Neben Bothstedes fischen zwei weitere Betriebe im See. Am Südufer, in Zarrentin, arbeitet Diana Rehbohm. Auf ihrer Seeblickterrasse sitzen zwei Handwerker vor Aalbrötchen und Kaffee. Morgens halb zehn, einer der zwei angestellten Fischer kehrt, „Tach, Chefin!“, vom Netze setzen zurück. „Die Kormorane sind jetzt in Dutzow. 200 Stück“, berichtet er. „Sobald die den Hering in der Ostsee nicht mehr kriegen, kommen viel mehr.“ Cleverer Vogel sei das, führe seine Jungen ans Netz, „dann brodelt das Wasser.“

Die Chefin holt Listen: „Gesehene und geschätzte Anzahl Kormorane 2016“. 12. August, hinter der Möweninsel, 1500. 17. August, Schalißer Bucht, 2000. Seit drei Jahren führt sie Protokoll. Laut Fischereiverwaltungen vertilgt ein Vogel täglich zwischen 300 und 500 Gramm. Bei 20.000 Kormoranen, die sie voriges Jahr zählte, wären das bis zu 10 Tonnen. „Ich wäre froh, hätten wir so viel.“ Wie Kollege Bothstede fordert sie Regulierung. „Wie zu DDR-Zeiten. Da gab es einen festen Bestand. Was drüber war, wurde abgeschossen.“

Um den Kormoran, pechschwarze Federn, der Schnabel ein Keil, herrscht vom Bodensee bis zur Ostsee Krach. Die Gesetze erlauben in bestimmten Fällen das Töten oder Vergrämen des geschützten Vogels. Auf dem Schaalsee bleibt das verboten.

„Schon schlimm, was hier herumflattert“, sagt Hans-Otto Eggert, der am Westufer in Dargow Gasthof und Heuherberge betreibt. Zwei Angler seien vorzeitig abgereist, weil hier kaum Fisch zu fangen sei. Eggert leitet den Verein „Schaalsee und Umgebung“. Über 50 Leute seien sie, Anlieger, Seebesitzer, Landwirte, „alle, die rund um den See etwas zu verlieren haben“. Der Vision der Umweltschützer, eine gemeinsame Biosphäre von Ost und West, verweigern sie sich: „Dann würde die EU hier bald alles lenken“, sagt er.

In den Neunzigern fochten Eigentümer vor Gericht die Rechtmäßigkeit des Naturschutzraums an. Landwirte klagen, dass man nicht mehr gegen Unkraut spritzen darf. Eine Bürgerinitiative, dass Wanderpfade, die Jahrhunderte die Dörfer verbanden, verkrauten und verschwinden. Historiker kritisierten das Bepflanzen des Grenzstreifens, „das ehemals zerschneidende Band, ein Wald wie jeder andere“. 2011 zitierte ein FAZ-Artikel, Titel „Für Menschen verboten“, eine Bewohnerin im Reservat: „Schlimmer als zu Zeiten der Grenze.“

Naturschützer als Spielverderber. Den Plan der Lassahner, ein Heißluftballon zum 777. Dorfgeburtstag, ließ das Biosphärenamt platzen, Paragraf 6, Punkt 9 der „Verordnung über die Festsetzung von Naturschutzgebieten“ verbiete es, „mit Luftfahrzeugen aller Art zu starten oder zu landen.“ Auch ein Fährschiff zwischen den Touristenpunkten – „davon träumen wir seit der Wende“, berichtet Eggert –, darf es vorerst nicht geben. In einem EU-Vogelschutzgebiet sind Bootezahl und Befahrenszeiten streng geregelt. „Gängelung ohnegleichen“, tippte einer in ein Jägerforum im Netz.

Mancher mag sich einem Umweltschutz, der stets Gutachten und Gesetze zückt, ausgeliefert fühlen. Die vermeintliche Allmacht der „Ökokraten“, sie schrumpft, zoomt man aus dem Schaalseeland. Drei Meldungen vom Frühjahr: Die Bundesregierung veröffentlichte Zahlen, wonach mehr als die Hälfte aller deutschen Gewässer ökologisch verarmt sei. Sie stellte die Rote Liste vor, die fast zwei Drittel der heimischen Biotop-Typen gefährdet sieht. Eine Studie verzeichnete ein dramatisches Insektensterben in den letzten 25 Jahren, Populationen schwanden um bis zu 80 Prozent.

Fliegen umsurren die Lockenpracht der Gallowayrinder, die am Salemer Moor grasen. Thomas Neumann trifft Gunnar Grönke, „einen Jugendfreund“. Der betreut die Rinder, war vorher in der Gegend Förster. „Diese Weide war noch 1997 Weizenfeld, mit Chemie durchsetzt“, erzählt er. Der Zweckverband kaufte die Fläche, verpachtet sie an einen Bauern, der sich zu nachhaltiger Weidewirtschaft verpflichtet. Kaum mehr vorstellbar, dass hier, wo Falter flattern und im Schutze des Weißdorns zarte Eichen sprießen, vor Jahren Monokultur war. Umso deutlicher offenbart sich die historische Leistung der Naturschützer vom Schaalsee. In einem Land der Intensivwirtschaft und versiegelten Flächen konnten sie einen wildes Fleckchen bewahren. Fast eine Spur zu kitschig wirkt da das Auftauchen eines Greifvogels über der Weide. „Ei, das ist ein Mäusebussard“, ruft Neumann.

Für die Pflege des Grünlands erhalten die Viehwirte Zuschüsse. Auch werden Bauern entschädigt, nehmen Ernte oder Tierbestand durch Wild oder Wolf Schaden. Für die Fischer der Region gilt das nicht. „Ungerecht“, sagt Neumann, selbst lange mit einem Schaalseefischer befreundet. „Als Bewahrer der Gewässer verdienen auch sie eine EU-Prämie.“

Selbst wenn sich das änderte, ein Konflikt bliebe. Er betrifft auch uns, die Verbraucher: Fast neun von zehn in Deutschland verzehrten Fischen sind importiert. Die rappelvolle Fischtruhe im Edeka in Mölln, dem Nachbarort von Grambek, bietet zwei Bioprodukte: Lachsfilets aus norwegischer Aquakultur und Black Tiger Garnelen, „natürliche Züchtung“, aus Vietnams Mangrovenwäldern. Beide tragen das Logo des WWF.

Am Steg der Stintenburginsel zieht Bothstede mit dem Köcher Achten im See: Er prüft die Menge der Rädertierchen und Hüpferlinge, Futter für seine „Fischlein“. Das Reservatsamt engagierte ihn für die Wiederansiedlung der verschwundenen Großen Maräne, Coregonus holsatus. Ein ambitionierter Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Im August entscheidet sich, ob weiter Geld für das Projekt fließt. Wegen seiner Teiche verhandelt Bothstede nun mit dem Landesumweltamt: Es will sie in ihrer Funktion als Amphibienhabitate erhalten und ihn für die Pflege bezahlen. Beides zusammen könnte den Vater-Sohn-Betrieb retten.

Lurche hüten – das schmeichelt vielleicht nicht der Fischerehre. Zumindest aber bliebe die Natur, die er trotz allem liebt, sein Arbeitsplatz. Letzten Winter hat er zum Geld verdienen die Teiche des örtlichen Golfklubs gepflegt. Dort zog er kleine Bälle an Land.