Der Wald ist nicht genug

Jürgen Wagner alias Öff Öff lebt ohne Staat und Geld, dafür mit einer großen Utopie. Ihn treibt die Sehnsucht nach naturnahem Leben. Oft sucht Öffi die Öffentlichkeit – ein faustischer Pakt.

[SPIEGEL Online, Dezember 2016]

An seinem Vorbild ist er vorbeigezogen. „Jesus blieben drei Jahre als Wanderprediger. Ich bin seit 25 Jahren dabei“, sagt Jürgen Wagner, den alle nur Öff Öff nennen. Wollten Verehrerinnen nett spazieren, entgegnete er: „Inwiefern dient das der Revolution?“

52 Jahre ist er nun alt, Zahnlücken im Mund, der Bart ergraut, die Revolution geht weiter. Sie führt ihn im Herbst 2016 nach Mecklenburg, ins Dorf Dargelütz. Im alternativen Wohnprojekt auf einem früheren Bauernhof läuft das Jahrestreffen der Schenker. Seine Bewegung, die „gewaltfrei leben und Geschenke austauschen“ möchte.

Das Wochenprogramm: Yoga, Rohkostwandern, der Vortrag „Was wir von Hunden lernen können“. Vor allem aber: Öff Öff, der sein Wissen schenkt.

In einer Kutte aus verfilzter Wolldecke schweift er von der Erdcharta zur Friedlichen Konfliktlösung nach Rosenberg, Baustoff für sein Utopia. Als die anderen fürs Mittagessen Rüben raspeln und Grünkohl schneiden, taucht er neben der brodelnden Hagebuttensuppe auf, „ich komme noch mal auf meinen Ansatz des organischen Denkens zurück“. In der Stube verteilt er Arbeitspapiere zu seinen „Strategien der Gesellschaftsmetamorphose“ – „beim Lesen werdet ihr feststellen: eine ständige Wiederholung des Immergleichen. Aber bei Sokrates war es noch viel schlimmer“.

Öff Öffs Publikum hockt auf abgewetzten Sofas und knabbert Johannisbrot, eine Handvoll Leute, der treue Kreis. Matthias, innere Kämpfe, weil er Privatbesitz ablehnt und nun ein Haus erbte. Wolfgang, der („Stecker raus“) über den Energiehunger des Westens schimpft, aber seit 25 Jahren als Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost arbeitet. Sie bewundern „Öffis“ Konsequenz, frei von Staat und Geld zu leben.

Zeitungen nannten ihn Mini-Gandhi, er saß bei Maischberger und wehrte sich erfolgreich gegen den Rundfunkbeitrag; an der Tür zur Speisekammer ein „Bild“-Artikel: „Unser Waldmensch ist wieder Papa!“

Aussteiger mit Auftrag, die Welt kennt einige prominente Fälle. Der Schweizer Einsiedler Armand Schulthess behängte Kastanien mit Wissenstafeln, seine „Enzyklopädie im Wald“ wurde später auf der Documenta ausgestellt. US-Schriftsteller Henry David Thoreau kehrte aus zwei Jahren Wildnis mit seinem Opus magnum „Walden“ zurück, bis heute Standardwerk der Zivilisationsflucht.

Einer verlässt die Gesellschaft – und gerät dadurch in ihren Blick. Faszinierend, die Figur des Aussteigers. Aber wir folgen ihr nicht: motzen über lauwarme Duschen im Hotel, kleben an der Karriere, trösten uns in Krisen mit Kaufrausch. Der einzelne, der alles anders machen will, warum kämpft er weiter?

Die Wagners aus Gladbeck: Mutter Hausfrau, Vater Kassierer. Kirchgänge, Geldsorgen, Zusammenhalt. Jürgen, 13 Jahre, vor Eifer glühend, wollte die wagnerschen Werte auf den Erdball ausdehnen: eine Menschheitsfamilie, die teilt und gewaltfrei Probleme löst, ohne Ellbogen, verbunden aus Liebe. „Der Mensch muss verrückt werden, der über solche Dinge nachdenkt“, riefen die Eltern. Die Lehrenden im Priesterkolleg – nach Abitur, Theologiestudium, Zivildienst – nannten solche Ideen überspannt.

Jürgen Wagner sagte sich: „Jesus und Gandhi nahmen den Weg von außen und entwickelten große Hebelkraft.“ Also Ausbruch. Radikal. Aus allem. Er legte seinen bürgerlichen Namen ab, schickte den Personalausweis dem Staat zurück, berief sich auf Artikel 20 der Menschenrechtscharta: „Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören.“ Alles Geld verschenkt, 3000 Mark, das letzte Hemd in den Rucksack – am 19. Dezember 1991 zog er mit seinem Kumpel Carsten los.

Als Wahrheitspilger durchs frisch geeinte Deutschland. Nachtlager unter Bäumen, tagsüber Fußgängerzonen, sie banden Laken an Laternen: „Wer will im Ernst verantwortlich leben?“ Viel Kopfschütteln, „manche Leute sind völlig verblendet durch ihre materiellen Bedürfnisse“, sagte Öff Öff einem Fernsehteam. Bald waren die Schuhsohlen zerschlissen, im Schwarzwaldschneegestöber kehrte Carsten um, zog zu einer Frau. Zweisamkeit statt globaler Liebe.

Auch in Utopien schleicht sich Alltag. Morgenkreis in Dargelütz. Mahash, lange Jahre Landstreicher, endlich ein Zuhause, klagt über einen Mitbewohner: „Er hat mich krank genannt, weil ich bei Hektor im Stall schlafe.“ Hektor, ein Kalb. Mahash kaufte es einem benachbarten Bauern ab, knapp vor dem Bolzenschuss.

Manuel, 30 und Frührentner, will nun „Heilarbeit am Planeten“ leisten. Er wundert sich, dass die Gruppe aussortierte Äpfel aus dem Supermarktabfall klaubt, während im Garten hinterm Haus das Fallobst verfault.

Manuel traf Öffi schon im ostwestfälischen Forst, im „Auenland“. Ein Aussteigerprojekt mit hohen Zielen, berichtet Öffi, „leider entstand eine Sofakultur, die Leute haben ihre Zeit verkifft“. Manuel protestiert zaghaft: „Wir haben auch über Lehmbau nachgedacht.“ Öffi schmunzelt. „Nur ein Blick auf die schiefen Balken der Hütten – das hat alles über die Probleme des alternativen Lebens gesagt.“

Er hingegen will als Vorbild wirken. Aus Weidenzweigen baut er Jurten, behandelt Karies nach Art der Hopi-Indianer: „Die Kunst ist, den Zahn so zu zerbröckeln, dass der Nerv kaputtgeht.“ Vor Jahren bezog er einen Verschlag in einem Felsental der Oberlausitz – und blieb nicht lang verborgen. Kamerateams stapften in den Wald, sie filmten, wie er Marder grillt und Schnecken schluckt.

Ein Wilder für die Wohlstandsgesellschaft, lange vor dem Dschungelcamp. Gegentrends zur Verstädterung gab es schon im Zuge der Industrialisierung – Schrebergärtner, Lebensreformer, Meditationskreise. Die Hektik der Metropolen und die Digitalisierung verstärken die Sehnsucht nach mehr Naturnähe, dafür stehen Aussteiger stellvertretend: Denn sie leben diesen Traum – oder versuchen es zumindest.

Mit seinen Ideen suchte Öff Öff die Öffentlichkeit. Ein faustischer Pakt. Der Boulevard titelte: „Statt Regenwürmern… Waldmensch Öff Öff mampft Cheeseburger“. Ein Leserreporter hatte ihn in einer Autobahnraststätte geknipst.

„Reißerische Zirkusartikel“, ärgert er sich heute. Damals trug er dazu bei: Nach der Trennung von seiner Freundin schickte er Journalisten eine Pressemitteilung; er posierte als archaischer Jäger, den toten Fisch für die Angel brachte der Fotograf gleich mit.

Manche Mitstreiter nervt solche Inszenierung. Bewohner eines Projekts in Paulsdorf stellten 2008 ein Video ins Netz, in dem sie Öffis Kram in den Wald werfen, weil der in einem Radiointerview behauptet hatte, ebendort zu nächtigen – wo Öffi doch bei ihnen wohne.

Ebenfalls 2008 musste er im Streit um Unterhaltszahlungen vors Amtgericht Eschwege. 2011 und 2012 lief in Löbau der Pornoprozess, am Ende eingestellt: Jürgen Wagner habe Nacktbilder seiner Ex-Freundin unerlaubt verbreitet. Vermutlich gezielte Störaktionen, auch von staatlicher Seite, heißt es im Schenker-Forum: „Wir gehen davon aus, dass wir wegen unserer Systemkritik mit geplantem Gegenwind zu tun haben.“

25 Jahre nach dem Loslaufen scheinen die Ziele des Wanderpredigers weiter fern: Leben ohne Geld – dürften die allermeisten auf der Welt noch immer unfreiwillig führen. Geschwisterliches Teilen – die Sharing-Revolution von Uber und Airbnb, netter Trick, um Steuern und Sozialabgaben zu sparen. Deutschland öffnet sich Flüchtlingen – Öff Öff sieht keinen Akt globaler Liebe, sondern „neue Jongliermasse für den kapitalistischen Arbeitsmarkt“. Und der Aufstand Abgehängter gegen das Establishment? „Die kleinen Leute, das sind oft nur verhinderte Großkapitalisten.“

Inzwischen treibt es ihn seltener auf die Straße. Mit seinen Botschaften machte er es wie die Konsumbranche, wanderte aus der Fußgängerzone ins Internet ab. Sein Wikipedia-Artikel verzeichne täglich 60 Aufrufe, berichtet er stolz. Auch Anke stieß im Netz auf ihren Öffi, Ende 2009, alternative Hochzeit und Sohn Aljoscha folgten. Die drei wohnen in Ankes Haus in Hessen, Geld verdient sie mit gewaltfreiem Hundetraining und Licht-Liebe-Seminaren.

Öff Öff ist nun Teilzeiteinsiedler: 20 Kilometer entfernt steht sein „Real-Utopia“, ein Wohnwagenwrack auf einer Wiese. Er pendle jeden Tag dorthin. Die Monatskarte für den Bus hat Anke ihm geschenkt.