Er hat Sachen drauf, die sonst keiner kann: Naser Kassem bearbeitet seine Kunden mit Faden, Feuerzeug und scharfer Klinge. Wie ein Flüchtling in Sachsen auftrumpft
[TAGESSPIEGEL Sonntag, August 2015]
Minister saßen bei Naser Kassem im Stuhl, ein Dutzend Lehrlinge hat er ausgebildet, in seinem brummenden Salon in Sour, Südlibanon. Und dann, in seinen ersten Arbeitswochen in Deutschland: kehrte er selbst wieder den Tag lang Haare zu Häufchen, mit 40 Jahren. Blies mit dem Föhn die Lehnen der Frisierstühle sauber, servierte Kunden den falschen Kaffee, weil er „Milch“ verstanden hatte, nicht aber das „ohne“ davor. Wie ein übereifriger Schülerpraktikant hatte er gewirkt – bis sich in der Stadt herumsprach, was er kann.
Eine Frau tritt ein. Dass es nun einen Barbier gibt im Salon „Haar Schneider“, las sie im Wochenkurier. „Fand ich schon im Ägyptenurlaub faszinierend“, sagt sie und meint Gesichtshaar entfernen auf orientalisch, mit Faden, Wachs, Feuer. Sie hat den Termin für ihre Söhne arrangiert, Stefan heiratet morgen, Sebastian ist Trauzeuge. „Das heute geht auf mich“, hatte sie vorab feierlich verkündet.
Mit der Spiegelreflex, extra eingepackt, knipst sie drauf los, als Naser mit Feuerzeugtippsern die Ohrläppchen vom Flaum befreit und die fiese Note versengten Haars in den Wohlgeruch der Waschlotionen steigt. Als seine Finger den Nähfaden zur Schlinge drehen, mit der er ruckartig die Härchen von der Stirn zupft. Als er die scharfe Rasiermesserklinge im 30-Grad-Winkel über die eingepinselte Wange zieht – einmal mit, einmal gegen den Strich. „Wie Kinderpopo!“, sagt Mutti, als sie Stefans Haut streichelt.
„Der ungepflegte Vollbart ist ziemlich abgemeldet“, erklärt eine Kollegin Nasers. Dank ihm lebt das wiederentdeckte Handwerk klassischer Herrenfriseure nun auch in Hoyerswerda auf. Er ist der einzige Barbier der Stadt – und vermutlich im gesamten Landkreis, wo der Ausländeranteil ein Prozent beträgt. Lokalzeitungen, das Radio haben über ihn berichtet. Das treibt neugierige Kundschaft in den Salon.
„Mein Rasierer hat fünf Klingen und schafft das nie so glatt“, sagt ein Kunde.
„Mit dem Feuerzeug auf Kunden losgehen, traut sich keine von uns“, sagt Topstylistin Sina. Und: „Die Konturen der Augenbrauen mit dem Faden herauszuarbeiten, kriegt er übelst gut hin“
Gestern hat er einem Herrn den Schnurrbart gestutzt und gezwirbelt. Der gab ihm 20 Euro extra. „Bakschisch“, erzählt Naser stolz.
Bärte hat er gebändigt, da spross ihm kein Haar am Kinn. 12 war er, die Schule zerbombt im Bürgerkrieg, der kranke Vater ernährte die Familie nicht mehr, der Salon der Straße suchte Hilfe – so lief das mit seiner Berufswahl. Schwarz und stark waren die Haare der Kunden im Libanon, nicht wie hier: hell, dünn, spärlich.
Am Silvestertag 2013, nach einer zwei Wochen und 3600 Kilometern langen Flucht, erreichte er mit seiner Familie Deutschland. Vom Erstaufnahmelager im klirrend kalten Erzgebirge zogen sie im Februar 2014 ins Hoyerswerdaer Heim. Trinken, Rauchen, Al-Jazeera glotzen – war nichts für ihn, lieber hat er Fahrräder repariert oder die anderen Heimbewohner frisiert. Wie sagt sein Kumpel Walid: Naser braucht immer was zu tun. Beim Schneiden im Waschraum des Heims tauschten sie sich über Kriege in der Heimat und den Stand ihrer Asylverfahren aus.
Die Kunden im Salon unterhält er, indem er das Rasiermesser zähneklappernd an seine Kehle setzt oder es schwingt wie ein Butterfly; worüber Männer so lachen. Worte verliert er kaum, Deutsch fällt ihm schwer. Aber er lernt.
„Meine Kolleginnen reden viel. In der Pause, bei der Arbeit“, sagt Naser. „Ist gut für mein Deutsch.“ Im Libanon wurden Männer von Männern frisiert. Nun arbeitet er mit Lisa, Jaqueline, Sindy: Tätowierte Oberarme und
Ohrringe groß wie Armreifen, dazwischen Naser mit seinen schmalen Schultern.
Auch sein bester Freund ist eine Frau.
Eine Siedlung in der ausrinnenden Altstadt. Karnickel im Vorgarten, Erdbeertorte auf dem Couchtisch. Carmen Beyer, das sagt sie offen, war skeptisch, als Anfang 2014 das Asylbewerberheim in Hoyerswerda öffnen sollte. Nicht aus Angst vor Ausländern. Aus Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. September 91, der Mob, die Brandsätze, das Jubelspalier für die Busse, die Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus der Stadt evakuierten.
Vor der Heimöffnung rief der Bürgermeister zum Infoabend. Ein Anwohner sah den Wert seines Hauses bedroht. Einer schlug vor, das Heim doch besser außerhalb der Stadt zu bauen. Die Flüchtlinge könnten in ihren Garten gucken, fürchtete eine Frau. „Ich habe da so viel Schwachsinn gehört“, erzählt Carmen, „dass ich mir sagte: hilft nüscht, du musst dich engagieren.“
Das Bürgerbündnis „Hoyerswerda hilft mit Herz“ gibt im Heim Deutschstunden, organisiert eine Spielgruppe für die Kinder. Dort lernte Carmen zwei kleine Mädchen der Kassems, einer Familie aus dem Libanon, kennen. Der Vater, erfuhr sie, hatte seinen Haarsalon verkauft, um die Schleuser zu bezahlen.
Sie lud die Familie in ihren Garten zum Forellen grillen. Sie gingen zum Stadtfest, dort hätten die Leute Yasmin mit ihrem Kopftuch angestarrt wie eine Außerirdische, erzählt Carmen. „Ich habe nur gedacht: Gewöhnt euch dran.“
Als Yasmin Kassem schwanger wurde, sagte Carmen: Jetzt muss eine Wohnung her! Die Frau mit der feuerroten Mähne war bald leidlich bekannt, bei Ausländerbehörde, Wohnungsgenossenschaft, im Landratsamt. Im Januar zogen die Kassems um. Ins Wohnzimmerregal stellten sie ein gerahmtes Foto von Carmen. Musste sie fast heulen, als sie das sah.
Zu Nasers Deutschkurs im 20 Kilometer entfernten Kamenz gehörte ein Praktikum. Weil sich selten Betriebe finden, landen die meisten Teilnehmer doch nur an der Werkbank des Bildungszentrums. Carmen hatte für Naser einen anderen Plan.
Eine Gasse am Marktplatz von Hoyerswerda führt zum Salon Haar Schneider. Die Friseurinnen tragen schlankes Schwarz und im Ohr Knöpfe. „Peggy, haben wir noch Promos von S-Factor?“, funkt es aus der colour lounge nach vorn. Im Herrensalon mannshohe Spiegel, in der Sofaecke GQ und Playboy, auf dem Klo ein frisches Handtuch für jeden Gast. Wirkt wie ein Hotel zum Haare schneiden, „darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?“, fragen die Frauen am Empfang. Heiko Schneider, der Chef, hat sie aus dem Gastgewerbe geholt. „Sie bringen mehr Serviceerfahrung mit“, sagt er.
So kennt man den Schneider in der Region: ein Macher. Er hält Workshops – „Die richtigen Mitarbeiter finden. Neue Wege, neue Ideen“. Statt mit seinem Salonkonzept einer von vielen in Berlin oder Dresden zu sein, blieb er in der Heimat und lockt Talente her, mit Weiterbildungen in Wien oder London und dem Aufstieg zur Topstylistin; 2500 Euro brutto, stattlich in dieser Branche. Kürzlich gewann er den Top-Salon-Award, die begehrteste Trophäe im Friseurhandwerk, Kategorie „Arbeitgeber des Jahres.“ – „Ich sage meinen Mitarbeiterinnen immer: Wir wollen in der Bundesliga mitspielen.“
Als Carmen im Laden nach einem Praktikum für Naser fragte, sagte Schneider direkt zu; wenig später besuchte er die Kassems, die damals noch im Asylheim lebten. „War dramatisch“, erzählt er. Das enge Zimmer, der Lärm in den Gängen, die Sirene an der Wand, die in mancher Nacht alle aus den Träumen holt.
„Gruselig“, fand er den Bericht in der ARD vom November, wo sich Hoyerswerdaer zum Heim äußern. Ein junger Typ, Zahnlücke, Schädel rasiert, spricht in die Kamera: „Die ganzen asozialen Hunde nehmen uns die Arbeit weg.“ Schneider will ein weltoffenes Bild seiner Heimat zeichnen. Naser schien ihm ein geeigneter Komplize für diesen Plan. Im Februar stellte er ihn fest ein.
Naser weiß wieder, was das ist: Feierabend. 15 Uhr, Jacke schnappen, die Mädchen warten in der Kita. Sein Weg führt von der herausgeputzten Altstadt querfeldein in Hoyerswerdas realsozialistische Vergangenheit. Die Neustadt.
Ab den Fünfzigern wuchsen hier Wohntürme für die Kumpel des Kohlekombinats Schwarze Pumpe in den verrußten Himmel. Seit der Wende sind die Öfen aus, Menschen und Wohnzeilen verschwinden, Utopia wird zurückgebaut. Hoyerswerda, von einst 70.000 Einwohnern auf die Hälfte runter, Deutschlands am schnellsten schrumpfende Stadt.
Vorbei am alten Mann, der vom granitgrauen Balkon eines Elfgeschossers hustet, der Teeniemutter im Thor-Steinar-Pulli, die ihr Desperados-Bier an der Mauer des sowjetischen Ehrenfriedhofs aufzuhebeln versucht. Naser hat keinen Blick für Klischees, sondern für die Zuzügler der Stadt: Er trifft einen Tunesier, „Salam“, sieht eine Frau mit Kopftuch und Kinderwagen in den Deichmann spazieren. „Tschetschenin“, weiß er. Alte Bekannte aus elf Monaten Heim.
Vom Hof der Kita stürmen Acil und Saly auf ihn zu, fünf und sieben Jahre, ein Gewirbel von dunklen Locken und Hello-Kitty-Taschen. „Baba!“, rufen sie aus einer Kehle, um sich sogleich anzuzicken: „Warte auf mich, Alter“ – „Was soll das, Mann!“. Sie haben gut Deutsch gelernt. Jetzt schnell zur Mama und dem Baby. Noch eine Tochter. Ihr Name: Sjoud. Geburtsort: Hoyerswerda.
Ein Asylbewerber, der Karriere macht: Nasers Story ist der ganze Stolz des Bürgerbündnisses. „Sie soll anderen Flüchtlingen Mut machen, bei Arbeitgebern Türen öffnen“, sagt Gründerin Grit Maroske. Auch für viele Hoyerswerdaer bedeutet die Geschichte Hoffnung. Hoffnung für ihre stigmatisierte Stadt.
Fraglich bleibt, wie die Geschichte ausgehen wird.
Halt der Buslinie 3, ein Wohnblock am grünen Rand der Stadt. Die Nachbarn heißen Herrmann, Schöne, Westphal – und Kassem. Im Ofen schmort Lamm mit Blumenkohl. Das Fleisch brachte Naser neulich aus Berlin mit, halal gibt’s nicht in Hoyerswerda. Yasmin sagt, Naser sei ein zufriedener Mann, seit er wieder arbeiten kann. Ob sie selbst glücklich sei? Sie blickt zum Teppich, sagt dann: „Manche Leute haben schlecht geschaut, weil ich ein Kopftuch trage.“ Naser sagt: „Im Libanon haben wir vier Millionen Einwohner und eine Million syrische Flüchtlinge. Hier regen sich die Leute wegen viel weniger auf.“
Dann erzählt er von den Männern im fahrenden Auto, die eine Bierflasche nach Yasmin und den Kindern warfen, Acil stürzte vor Schreck und musste ins Krankenhaus. Von den zwei Betrunkenen, die Yasmin und ihn vor dem Netto bedrängten. Erst vorige Woche hätten „Nassis“ ihn fast vom Fahrrad gezerrt. Vom Brandanschlag auf die Hoyerswerdaer Asyl-Notunterkunft Anfang Juni hat er auch gelesen.
Seine Familie habe sich eingelebt in der Stadt, sagt er. „Wir sind nicht mal anderthalb Jahre hier, ich arbeite, wir haben eine Wohnung, die Mädchen sind im Kindergarten.“ Aber, fährt er fort, ohne seine neuen Freunde, ohne Carmen, seinen Chef – „würden wir wegziehen.“