In einem Gefängnis in Brandenburg lernen Häftlinge servieren und kochen
[TAGESSPIEGEL Sonntag, April 2014]
Heiße Phase im Knastlokal, Töpfe rasseln, Curry kitzelt in der Nase, die Brille eines Lehrlings beschlägt über dem Wasserdampf der Bain-Marie. Michael, rasierter Schopf und Möbelpackerhände, lässt auf großer Flamme seine Pfanne zischen, bis die Wildwürfel sich braun und saftig färben. „Man muss das Fleisch scharf anbraten“, erklärt er. „Damit die Poren verschließen.“
Als freier Mann brachte Michael Nudeln mit Ketchup fertig. Sollte es mal Soße sein, dann die zum Zusammenrühren aus der gelben Tüte. Heute, auf Zelle, schneidet er Rezepte aus. „Ich erwisch‘ mich dabei, wie ich Kochshows kieke“, sagt er. Gourmetkoch wolle er werden, sagte er seinem Ausbilder. „Draußen hätte ich keine mehr Lehre gefunden, mit meinen 38 Jahren.“
Kurz vor sieben blitzt blankgeputzter Stahl in der Küche – Dienstbeginn in der Personalkantine der Luckau-Dubener Haftanstalt. Zwölf schläfrige Frauen und Männer in gestärkten Kochjacken hocken im Speisesaal, aufgekrempelte Ärmel legen liederlich gestochene Tätowierungen frei. Sie sind zwischen zwanzig und Ende dreißig, einer hat einen Berufsabschluss, sonst: Schulabbruch, kriminelle Abstürze. Hier sollen sie in zwei Jahren die Kunst des Kellnerns und Kochens lernen. Ein Gesellenbrief für einen ersten echten Plan im Leben.
Ausbilder Henry Blume nickt in die Runde, Frage-Antwort-Spiel, wie jeden Morgen. „Was nehmen wir für den griechischen Salat?“ – „Wie viel Wasser braucht ein Kilo Reis?“ Dann kommt Michael an die Reihe. „Das Wildgulasch, wie bereiten sie das zu?“ – „Anbraten, tomatisieren, mit Fonds ablöschen. Zum Schluss Preiselbeeren.“ – „Warum zum Schluss?“ – „Sonst zerkochen die.“
Früher ließen sich die Beamten der JVA Luckau-Duben mit Bulette und Bockwurst abspeisen, seit die Kantine vor sechs Jahren zum Lehrbetrieb wurde, gleicht ihre Mittagspause einem Restaurantbesuch. Blütenweiße Tischtücher, die Stühle auf Stoffkante gerückt. Blumengestecke, polierte Gabeln, Serviettenfaltkunst. Auch Dekorieren gehört zur Ausbildung der Gastro-Fachkräfte.
Trotz Frauen und Männern, die gemeinsam lernen, trotz breiter gitterfreier Fenster – vieles läuft anders als in der Außenwelt. Kein Lehrling könnte je verschlafen, nach der Lebendkontrolle führt man ihn zu Dienstbeginn aus seiner Zelle zu. Statt echten Euros kassieren sie Spielgeld, Kognak einschenken wird mit Apfelsaft trainiert. Ein verschwundenes Messer kann Alarm auslösen: Neun Stück gehören zum Feierabend in den Messerschrank, als einmal eins fehlte, mussten alle Azubis suchen, bis es unter einem Berg Kartoffelschalen zum Vorschein kam.
„Als ich anfing, war ich geschockt, dass man hier nicht mit Rotwein ablöschen darf“, sagt Henry Blume. Der Koch mit Meisterbrief war als Hauptfeldwebel und Küchenmeister in Kabul und im Kosovo, dann versprach er Frau und Kindern, „sesshaft“ zu werden, seither ist die Lehrküche der JVA sein Einsatzgebiet. Auf bewährte Bundeswehrrezepte schwört er weiter, VENÜ ist eins. Vormachen. Erklären. Nachmachen. Üben. „Wenn einer bei einer Aufgabe nicht glänzt, wiederholt er sie am nächsten Tag“, sagt er. Disziplin müssen die meisten genauso erst lernen wie Gemüse hobeln.
„Beim Blume darfst du mal Blödsinn machen. Aber er kann auch anders. Und das ist gut. Das brauchen wir“, sagt die heutige Salat-Beauftragte beim Schalotten schneiden.
Dass um ihn herum Straftäter mit Messern hantieren, mache ihm keine Angst, sagt Blume. Deren Vergangenheit hat er trotzdem auf dem Schirm: Mit dem Lineal fährt er über das Gruppenfoto, das als Hintergrundbild seines Bürocomputers dient. „Der sitzt wegen versuchtem Mord. Der hat Autos verschoben, der Drogen vertickt. Er hier hat zwei Frauen getötet. Sie Lug und Trug begangen.“ Das Vorleben zähle bei ihm nicht, sagt er. „Wichtig ist, was sie hier zeigen.“
Laut Lehrplan lernen Gastgewerbe-Fachkräfte, simple Speisen zuzubereiten. Schnitzel klopfen, Salate anrichten, Bauernfrühstück nach Rezept. Blume aber sagt: „Wir machen hier alles, von der Roulade bis zum Tiramisu“. Das Reh für das Gulasch, geliefert von einem Jäger der Region, haben sie fachgerecht in der Küche zerlegt. „Ich halte das Niveau bewusst hoch.“ Wenn später im Betrieb mal der Koch ausfalle, könne man am Herd einspringen und Pluspunkte sammeln beim Chef. „Die Frau kann weglaufen, die Wohnung gekündigt werden, aber was man hier drin hat“, sagt er und pocht an die Stirn, „nimmt einem keiner mehr.“
Noch zehn Minuten, ruft Blume, „dann kann das Gulasch runter.“ Er patrouilliert um die Töpfe, tunkt in die Chinapfanne, „lecker, schön scharf!“, kostet vom Kohl, „dem fehlt noch Salz“. Viele Köche drängeln sich um den Herd, es scheint ihnen erträglicher, als auf acht Quadratmetern Zelle allein an die Wand zu starren. „Rühr’ mal um und gib ein bisschen Nelke dran“, rät Michael dem Kollegen, der sich am Rotkohl zu schaffen macht.
Früher wusch Michael mal Teller beim Griechen, „ist aber siebzehn Jahre her“. Nach dem Abbruch seiner Hochbaufacharbeiterlehre in den letzten Tagen der DDR hat er keinen Beruf gelernt. Er sitzt seit viereinhalb Jahren, Schlägereien und schwere Körperverletzung mit Todesfolge. 2016 kommt er raus, hofft er. Im Knast machte er die mittlere Reife, nach der Gastroprüfung will er den Koch draufsatteln. Der Michael sei einer, sagt Blume, der seine Haftzeit nutzt. „Die haben hier kein Kino, kein Privatleben. Für die Ausbildung ist das ein Vorteil.“
Kurz vor halb zwölf. Zwei der Frauen tauschen Küchenkluft gegen Krawatte und Weste – sie sind heute zum Servieren eingeteilt. Der erste Gast, ein Beamter in Uniform. „Freunde der Sonne, ich habe Kohldampf!“, ruft er. „Ach, Mahlzeit!“ grüßt Michael und schöpft Gulasch auf den Teller. Sechzig Gäste kommen noch, es gibt den Tisch der Krankenschwestern und den der Psychologen, die lange Tafel für das Verwaltungspersonal. Was übrig bleibt, dürfen die Küchenkräfte verspeisen. Aber nicht mitnehmen, „auf Piste“, in ihren Trakt. „Sonst kommt Futterneid auf“, erklärt ein Häftling.
Halb eins mittags, High-Noon im Knastrestaurant. Um diese Uhrzeit pflegt Anstaltsleiter Hans-Christian Hoff zu speisen. Bei Entscheidungen über Freigang oder Lockerung hat er das letzte Wort – und sorgt für nervöse Mienen wie der Michelin-Tester im realen Restaurant. „Für den kochen wir auch bloß mit Wasser“, sagt einer der Häftlinge trotzig. Hoffs Sonderwünsche können trotzdem alle aufsagen: Dessert doppelt, Würstchen immer scheibchenweise, dazu Multivitaminsaft, nur die Flasche, ohne Glas.
Der Anstaltsleiter, fürchtet er nicht, dass ihm mal einer in die Suppe spuckt? „Nein“, sagt er zu Tisch und sticht mit dem Löffel ins Soufflé. „Erstens würde ich das wohl nicht merken und zweitens, bin ich mir sicher, sind die Häftlinge zufrieden mit ihrer Arbeit.“ Eine Kellnerin huscht herbei, trägt ab, fragt: „darf ich den Espresso bringen?“ – Hoff nickt und fährt fort. „Sie begegnen ihren Bediensteten hier in deren Freizeit, auf Augenhöhe. Ein Stück Normalität.“ Er erzählt vom vergangenen Jahr, Klassikkonzert in der JVA. Nach Don Giovanni und Lohengrin präsentierten die Küchenkünstler ihre Canapés und Cocktailkreationen als Zugabe. „Da waren die stolz wie Oskar.“
Die wahre Bewährungsprobe wartet jenseits der Sechsmetermauern. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, das Wiederkommen nicht vergisst, hieß es zu Zuchthauszeiten – und noch heute, so das Justizministerium, wird jeder dritte Haftentlassene erneut straffällig. Draußen schnell Arbeit zu finden, so Studien, senkt das Rückfallrisiko. Da wirken die jährlich 80.000 Euro aus dem Europäischen Sozialfonds, mit denen die Berliner Universal-Stiftung die Gastrolehre organisiert, wie eine wohl platzierte Wette: Jeder Inhaftierte in Brandenburg kostet 45.000 Euro im Jahr.
Um ihren Lehrlingen zum Anschluss zu verhelfen, sprechen Blume und seine Ausbilderkollegin Agnes Simon regelmäßig bei Gastwirten der Gegend vor. Einen verheißungsvollen Absolventen hatte Simon nach dessen Entlassung an ein Lokal im Spreewald vermittelt, das sie früher einmal selbst geleitet hat. Nicht ohne Stolz schlägt sie dem Tagesspiegel dort ein Treffen vor. Wenige Tage vor dem Termin meldet sich Simon, die Stimme kalt vor Frust. Der Mann, trockener Alkoholiker, wurde hinterm Tresen beim Klauen erwischt. Schnaps. Die Hoffnung währte fünf Wochen lang.
Der Inhaber eines Spremberger Gasthofs haderte, ob er Jenny (Name geändert) einstellen soll. Nicht wegen ihrer Tätowierungen, den Piercings oder der grellbunten Frisur. Auch die 33-Jährige hat ihre Restaurantlehre in Luckau-Duben gemacht. „Ich dachte, ich brauche nicht lang zu reden, sondern überzeuge ihn einfach“, erzählt Jenny im Besucherraum des Offenen Vollzugs in Spremberg, in dem sie derzeit noch sitzt. Mit dem Fahrrad fuhr sie durch strömenden Regen zum Probearbeiten. Und durfte wiederkommen. Ein Arbeitsvertrag, 40 Stunden pro Woche. Kellnermesser und Kassierbörse kaufte sie vom ersten Gehalt.
„Ich mag die Arbeit. Sobald der Stress losgeht, blühe ich richtig auf“, sagt Jenny. Ihre Gesellenprüfung hatte sie mit 92 Punkten bestanden. Die Handwerkskammer Cottbus zeichnete sie daraufhin als Beste im Lehrberuf aus. Ein Erfolg auch für ihre Ausbilder – und ein wertvolles Argument, um skeptische Arbeitgeber von der Qualität der Knastlehrlinge zu überzeugen.
Ihren Absolventen raten Blume und Simon trotzdem, den Kollegen im neuen Job nichts von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Wenn eines Tages Geld in der Kasse fehle, wer würde der Verdächtige sein?