Zweites Gesicht

Wenn Menschen ihr Gesicht verloren haben, helfen ihnen Epithetiker. Kerstin Menzel und Yvonne Motzkus modellieren künstliche Augen, Ohren oder Nasen. Ihre Patienten sind Krebskranke oder Unfallopfer. Sie wünschen sich ein Stück Identität zurück – und Schutz vor Ausgrenzung.

[SPIEGEL Online, Juni 2012]

Das Gesicht sei des Menschen Visitenkarte, heißt es. Stimmt etwas nicht damit, irritiert das die Umwelt, lässt sie gar gruseln. Frau Groß* sammelt solche Reaktionen täglich – bohrende Blicke der Erwachsenen, neugierige Kinderfragen, was sich hinter ihrem Verband verbirgt.

Eines Morgens bemerkte die Rentnerin eine Beule an der linken Wange. Ein Tumor. Die Chirurgen entfernten Teile ihrer Nase, Lippe, Kieferhöhlenwand. Seither klafft dort ein Loch, tiefrot schimmert Schleimhaut. „Zuerst wollte ich meine halbe Nase nicht angucken, keinen Schreck vor mir kriegen“, sagt sie. Raus ging sie nur mit Verband.

Monate später, auf dem Behandlungsstuhl des Berliner Zentrums für künstliche Gesichtsteile, spricht die 81-Jährige von einem neuen Leben, das nun beginne. Auf dem Tisch liegt ihre Epithese, ein Stück Gesicht aus Silikon; bereit, die Spuren der Krankheit zu verdecken.

„Der große Moment“, sagt Kerstin Menzel, 36. Sachte setzt sie die neue Nase auf die Wunde. Unsicher blickt Frau Groß in ihr Spiegelbild, streicht zaghaft über den Rand des Kunststoffs und fragt: „Lachen darf ich aber nicht damit?“ – „Doch, sollen sie sogar!“, sagt Menzel. Da lachen beide. Die Epithese hält.

„Mach mal die Nase ein bisschen schmaler“

Kerstin Menzel und ihre Kollegin Yvonne Motzkus gestalten Gesichtsprothesen und geben Patienten, die sich ein menschenwürdiges Antlitz wünschen, ein Stück Identität zurück. Solche künstlichen Gesichtsteile werden notwendig bei Krebserkrankungen, bei Verletzungen durch Unfall, Brand oder auch Hundebisse.

„Unsere Arbeit funktioniert nur, wenn die Patienten aus eigener Kraft wollen“, sagt Motzkus. Beide Frauen sind gelernte Zahntechnikerinnen und über Fortbildungen zur Epithetik gekommen. Hunderte täuschend echte Nasen, Augen, Ohren haben sie schon modelliert, oft in Koproduktion. „Zu zweit spornt man sich an, sagt: ‚Mach mal die Nase ein bisschen schmaler'“, erzählt Menzel.

Ihr Labor liegt auf dem Gelände der Charité, des großen Berliner Traditionskrankenhauses. Mit den Medizinern der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie arbeiten sie eng zusammen. Die beiden Spezialistinnen begleiten die Operationen und beraten die Ärzte, an welchen Stellen im Knochen die Magnete zu setzen sind, die der Epithese später den Halt geben.

Sind die physischen Wunden der Operation verheilt, beginnt die eigentliche Arbeit der Epithetikerinnen. Der Job ist hart, nicht nur handwerklich. Die meisten Patienten sind Krebskranke oder Brandopfer. Emotionale Gespräche warten. „Die Möglichkeit der Wiederherstellung gibt vielen die nötige Kraft, ihren Schicksalsschlag zu verarbeiten“, sagt Menzel.

Modell sitzen wie beim Maler

Das Vorgespräch dient nicht allein der Vertrauensbildung. „Dass einer beim Sprechen rote Ohren bekommt, erkennt man nicht auf einem Foto“, so Menzel. Im Beisein des Patienten formen die Kolleginnen zunächst ein Wachsmodell des fehlenden Gesichtsteils. Eine zeitraubende Prozedur. „Man muss Modell sitzen wie beim Maler“, sagt Herr Leichsenring*, der nächste Patient heute.

Der Mittvierziger kam mit einer Fehlbildung des rechten Ohrs auf die Welt. Am ersten Tag seiner Woche im Epithetiklabor wurde ein Abdruck des gesunden linken Ohrs genommen, am zweiten und dritten das rechte Ohr modelliert sowie eine Negativform aus Gips erstellt. Heute steht das Einfärben an.

In hellem Licht sitzt Motzkus dem Patienten gegenüber. Auf dem Tisch Silikonkleckse, mit denen wird später die Gipsform ausgekleidet. „Das Ohrläppchen haben wir, jetzt mache ich den Knorpel“, erklärt Motzkus. Für jede Ohrpartie mischt sie einen anderen Ton. „Und ich dachte, mein Ohr hat nur eine Farbe“, sagt Leichsenring.

Motzkus fügt eine Spatelspitze Gelb hinzu, „der Knorpel ist immer heller als der Rest“. Die Paste wickelt sie in Folie, hält sie prüfend an Leichsenrings linkes Ohr. Ein wenig Violett noch. Mehr als 50 Farben enthalten die Döschen und Fläschchen: karmesinrot, kanariengelb, königsblau – keine Hauttöne. „Man braucht ein gewisses Farbempfinden“, sagt sie.

Schöpferisches Geschick kann auch nicht schaden. Lebenszeichen wie Falten, Narben, Äderchen verlangen den feinen Pinselstrich eines Restaurators. Flinke Finger helfen beim Einfädeln von Wimpern und Augenbrauen. Ein scharfer Blick fängt die Mimik ein.

Größtes Glück: Endlich mal die Haare hochstecken

Oft wird’s originell. Einen älteren Herren machten Motzkus und Menzel zum Bartträger – das soll die künstliche Oberlippe überspielen. Patienten mit einem Glasauge empfehlen sie, eine Brille aufzusetzen. „Lenkt von der fehlenden Augenbewegung ab“, erklärt Menzel.

Der ständige Blick in Gesichter, die vom Schicksal gezeichnet sind – das sei Alltag, sagt sie, „es gibt keine Berührungsängste“. Kollegin Motzkus nickt. „Wenn ein Patient mit nur einem Auge vor uns sitzt, merk ich das gar nicht mehr.“

Ein früherer Patient malte irgendwann ein Auge an die Wohnungstür: sollte ihn daran erinnern, seine Epithese aufzusetzen. Ohne sie hätte er sich mal wieder als Schrecken der Nachbarschaft gefühlt. „Die Reaktionen von außen machen das Herzeleid“, sagt Motzkus. Die dankbarsten Patienten seien Menschen, die schon als Kind gehänselt wurden. „Wir haben eine junge Frau mit Ohren-Epithese, für sie ist es jetzt der größte Glücksmoment, sich die Haare hochzustecken.“

Auch Herr Leichsenring trägt die Haare lang – noch. Zähe Minuten waren nur schlurfende Sohlen des Klinikpersonals und das Wedeln der Flügeltüren zu hören, bis Yvonne Motzkus die Worte spricht: „Aufatmen, wir sind durch!“ Die Epithese muss noch in die Presse, anschließend bei 150 Grad Celsius für zwei Stunden in den Ofen. Dann darf der Patient sein Ohr mit nach Hause nehmen.

Ein weiteres Werk verlässt die Manufaktur von Menzel und Motzkus. Die beiden Schöpferinnen werden hoffen, dass niemand ihre Kunst entdeckt.

(*Namen der Patienten geändert.)