Alles ist möglich: Beim Equality-Tanzen müssen Paare nicht aus Mann und Frau bestehen – auch Kleiderordnung und Regeln werden locker genommen. Die traditionellen Punktrichter verwirrt das
[TAGESSPIEGEL Sonntag, August 2011]
Gergely Darabos stemmt die Hände in die Hüften. Offenbar haben seine Schützlinge den schönen Spruch, wonach Tanzen Träumen mit den Füßen sei, etwas zu wörtlich genommen. „Schwitzt mal ein bisschen, Leute!“, ruft er gegen die Spiegelwand, „ihr treibt herum wie Wasserleichen.“ Gergely, 31 Jahre alt, ist professioneller Tanzlehrer. Der Ton des Ungarn mag scharf sein, doch die Paare sollen fit werden für den großen Auftritt. Ohne Drill geht das nicht.
Montagabend, Sportzentrum der Berliner Turngemeinde auf dem Columbiadamm. Latein für Fortgeschrittene, Samba, Rumba, Jive. Auf dem Parkett 14 Frauen und sechs Männer. Die Turniertanzgruppe des Pinkballrooms, einem Verein für Equality-Tanz, wie es ganz offiziell heißt, wenn zwei Menschen gleichen Geschlechts miteinander tanzen.
Gergely, die Augen tiefbraun, das Haar raspelkurz, den athletischen Leib in Schlabbershirt, Jeans und mattschwarze Absatzschuhe gesteckt, friemelt an der Musikanlage. Ein Cha-Cha- Cha. „Seht her“, sagt er, „so muss das gehen: Zacka, zicka.“ Hüfte raus, Hüfte rein. Voller Körpereinsatz für das große Ziel im kommenden Jahr: das erste Turnier.
Stattfinden wird es in den eigenen Räumen. Obwohl es deutschlandweit jedes Wochenende Dutzende Tanzturniere gibt – für die Paare des Pinkballrooms ist praktisch keins dabei. In der Turnierordnung des Deutschen Tanzsportverbands (DTV) steht geschrieben, dass ein Tanzpaar aus einem Mann und einer Frau bestehen muss. Wenn kommende Woche in Stuttgart 4000 Paare bei den German Open antreten, dem größten Tanzwettbewerb der Welt, sind keine Frauen- oder Männerduos darunter.
Eine derartige Trennung scheint aus dem Takt der Zeit. Doch Equality ist eine noch junge Nische im Tanzsport, die Lobby schwach, der eigene Verband DVET (das ist die Abkürzung für „Deutscher Verband für Equality-Tanzsport“) hat sich erst vor drei Jahren gegründet. Aber die Szene wächst. Als vor elf Jahren im Pinkballroom die Lichter angingen, war er eine der ersten Anlaufstellen für gleichgeschlechtliche Tanzpaare, inzwischen zählt der DVET bundesweit mehr als 60 Vereine.
Im mittlerweile leicht stickigen Saal tauen die angehenden Turniertänzer auf, die Bewegungen werden geschmeidiger. Gergely ist noch nicht zufrieden. Ihm fehlt die Sinnlichkeit. „Ihr müsst euch nicht gleich um den Hals fallen“, murrt er, „aber …“
„… gierig sein“, hilft eine Tänzerin.
„Gierig, genau.“
Tanz ist nun einmal Leidenschaft. „Der vertikale Ausdruck eines horizontalen Wunsches“, wie er mal gelesen hat. Er zitiert Brigitte und Regina in die Mitte, sie sollen zeigen, wie es geht.
Die Freundinnen, beide von der Schulter bis zur Sohle schwarz gekleidet, beide „weit über 50“, bitte nicht näher nachfragen, bewegen sich seit anderthalb Jahren unter Gergelys Fuchtel.
„Und jetzt: Hockey-Stick“, ruft er ihnen zu. Linker Fuß vorwärts, Wechselschritt, ein kurzer feuriger Blick, Linksdrehung, Wechselschritt. Fertig. Die Figur sitzt.
Sie wolle das Schöne an der Bewegung spüren, sagt Brigitte, die Dunkelhaarige, in einer Verschnaufpause, „und dabei gut aussehen“. Früher hat sie auch mit Männern getanzt. Ist vorbei. „Ich mag nicht, in Rollen gedrängt zu werden“, sagt sie. Im klassischen Paartanz führt der Mann, die Frau folgt. Es gibt Herren- und Damenschritte. Im Equality-Tanz heißen die Rollen Führende und Folgende, Wechsel sind jederzeit möglich. Brigitte führt bei Jive und Rumba, Regina übernimmt beim Cha-Cha-Cha. Schon früher hat die Frau mit dem kurzen blonden Haar entschieden, wo es langgeht. „Mein männlicher Tanzpartner hat mich nur offiziell geführt“, sagt sie mit einem Lächeln. Viele Frauen würden wohl zustimmend nicken – man beobachte nur auf der nächsten Hochzeitsfeier, wer bei Walzer oder Discofox tatsächlich die Hosen anhat. Neben den klassischen Rollenbildern lösen sich auch die starren Regeln auf: Anders als im konventionellen Tanzsport ist es nicht untersagt, mehr als einen Turniertanzpartner zu haben. Es gibt weder Schrittbegrenzung noch Figurenkatalog. Auch die sonst strikte Kleiderordnung fällt weg, Frauen treten im tief ausgeschnittenen Kostüm auf oder in Hosenanzügen.
Tanztrainer Gergely schätzt solche Freiheiten. Lange ist er mit einer Frau aufgetreten, bevor er 2006 als erster osteuropäischer Tänzer bei den Gay Games gewann, der inoffiziellen Weltmeisterschaft im Equality Dance. „Turniere für Gemischtpaare sind riesig, wie in einer Fabrik ist das, man läuft nur so durch, lernt sich nicht kennen“, sagt er. „Unsere sind familiärer, es wird gelacht. Typisch queer eben.“
Bei all den Gegensätzen stellt sich die Frage, ob sich die Frauen- und Männerpaare so einfach in herkömmliche Wettkämpfe integrieren ließen. „Das wollen wir gar nicht“, erklärt Maja Frische aus dem Vorstand des DVET. Sie könnten sich nicht mit Gemischtpaaren messen. „Wenn zwei Männer Latein tanzen, haben sie eine ungemeine Kraft, während zwei Frauen eher Eleganz ausstrahlen“, sagt sie. Wegen dieser unterschiedlichen sportlichen Voraussetzungen habe der DTV die Mann-Frau-Regel in die Turnierordnung geschrieben, erklärt dessen Präsident Franz Allert: „Man darf das nicht als Ausgrenzung verstehen. Leistungen müssen vergleichbar sein.“
Wenn der DTV seine Punktrichter zum ersten Mal auf Equalityturniere schickt, sind die schon mal verwirrt. „Manche können kaum folgen, wenn sie zwei Fräcke zusammen sehen“, sagt Frische. „Und was Führungswechsel sind, das wissen sie auch nicht.“ Manche Paare wechseln die Führung nicht nur nach einem Tanz, sondern auch mittendrin. Sie nutzen die Ruhephasen während der Figuren und greifen um. Die hohe Kunst ist unter den Amateuren eher selten. „Gibt immer einen Knoten im Kopf, wenn man plötzlich tauscht“, wie es eine Tänzerin aus Gergelys Gruppe ausdrückt.
Der Verband pflegt das Image vom etwas anderen Paartanz, Regelverschärfungen sind nicht geplant. Trotzdem: Ziel sei es, sagt Frische, „unsere Wettkämpfe eines Tages in Hetero-Turniere einzubetten“. Einen ersten Versuch gab es bereits, bei der diesjährigen Pfingstrose, einem Tanzturnier in Köln. „Um die Zuschauer damit zu konfrontieren, dass es uns gibt.“
Im Pinkballroom haben sie ihre eigenen Erfahrungen mit der Akzeptanz von außen gemacht. Carsten, der in der Breitensportgruppe tanzt, erzählt von einem Erlebnis in Paderborn. „Erzkatholische Gegend. Vor fünf Jahren waren wir dort auf einer Tanzparty. Der Veranstalter hat gerufen: ‚Ihr seid krank, lasst euch behandeln.’ Dann hat er die Polizei geholt.“ Selbst in Berlin habe es bis vor einiger Zeit irritierte Blicke gegeben, „mittlerweile hat man sich an uns gewöhnt.“
Carsten, 48 Jahre alt, tanzt seit fünf Jahren mit Raimund, 43. Ihm sei wichtig gewesen, unter Gleichgesinnten zu üben, sagt Raimund, der von Beruf Lehrer ist, „da wird man nicht blöd angeschaut“. Er tanze aber nicht ausschließlich mit Männern. Bei der jüngsten Feier im Familienkreis seien seine Schwestern hin und weg gewesen. „Die haben ziemliche Tanzmuffel als Ehemänner.“
Genug gequatscht, raus aus den Alltagstretern, rein in die Tanzschuhe. „Hab sie extra geputzt, Schnuckelchen“, wirft Carsten Raimund noch zu, als ihr Trainer Guido Bouwman die Glastür aufschmeißt: „Kommt ihr, bitte!“ Breitensport bedeutet nicht Tanztee im Seniorenstift. Davon zeugen die Handtücher, Wasserflaschen, Pflastersprays – und Guidos Sprüche: „Ich will euch nur noch mal ins Gewissen rufen, Tanzen ist Bewegen zur Musik, nicht gegen sie.“
Neben Carsten und Raimund vollführen zwei Frauen ihre Drehungen, die sich von der Arbeit kennen und beide einen männlichen Lebenspartner haben, aber lieber miteinander tanzen. Im Tanzsport herrscht Frauenüberschuss, dank Equality bleibt niemand am Rand stehen. Andere Heterosexuelle machen mit, weil die Konkurrenz kleiner ist und damit die Chance größer, Preise abzuräumen.
Auch Carsten nimmt an Turnieren teil, mit einem verheirateten Kumpel. „Just for fun“, wie er sagt. „Raimund will ja nicht.“
„Eine Horrorvorstellung!“, sagt Raimund. „So viele Leute schauen dir auf die Beine. Oder, wie Carsten immer sagt: auf den Hintern.“
„Ja, man muss schon exhibitionistisch sein“, sagt der.
Das Wasser in den Flaschen geht zur Neige, auf Carstens hoher Stirn perlt der Schweiß. Einen Wiener Walzer noch. Aus den Boxen läuft Percy Faiths „Theme from a Summer Place“, Carsten hält Raimund im angewinkelten Arm, Rücken gerade, Hintern raus, im Dreivierteltakt über das Parkett.
Im Nebensaal drehen auch Gergelys Paare die letzten Runden. Aber weil das schließlich „eine Turniertanzgruppe“ ist, wie er abermals betont, proben sie zum Schluss den großen Auftritt. Einmarsch unter Applaus, drei Paare in die Mitte, aufmerksame Augen am Rand. Der Jive bleibt ohne Fehler, Regine verbeugt sich, Brigitte macht den Knicks. Große Gesten, wie bei den Profis. Der Trainer lächelt milde. Solange es nach dem Tanz passiert, ist gegen ein wenig Träumerei nichts einzuwenden.